Der Gewinn aus Martha Arthos Laden übersteigt das Einkommen ihres Ehemannes, wie dem sauber geführten Kassabuch 1943–1949 zu entnehmen ist. Seinen Lohn verbucht sie als «Nebenerwerb». Die Detaillistin bedient nicht nur ihre Kundinnen und Kunden im Laden, sie beliefert auch eine Stammkundin, die weggezogen ist. Die Nuntiatur wird mit Lebensmitteln versorgt, ebenso das Viktoriaspital und die Psychiatrische Klinik Waldau. Martha sucht die Institutionen regelmässig auf, um sich nach deren Warenbedarf zu erkundigen.
Moritz entlastet seine Frau, wo immer er kann. Hat er am Sonntag frei, kocht er das Mittagessen und summt «Oh Donna Klara» vor sich hin. Am weiss gedeckten Esstisch gibt es Kalbsragout mit Kartoffelstock zu essen, dazu Erbsli und Rüebli aus der Hero-Konserve.
«Stimmlokal», steht auf einem Wegweiser. «Was ist das?», fragt die Tochter. «Im Stimmlokal kann man abstimmen», antwortet der Vater. «Können Frauen auch abstimmen?» «Nein.» «Warum nicht?» «Frag die Mutter.» Die Männer seien eher für die Dinge des Staates zuständig und die Frauen für das Zuhause, den Haushalt und die Kinder, erklärt diese die traditionelle Rollenteilung. «Aber warum bekommen die Kinder dann den Namen des Vaters und nicht den Namen der Mutter, wenn sie doch für die Kinder zuständig ist?» «Frag nicht ständig!», bekommt sie immer wieder zu hören. Und: «Mach ke Komedi». Martha junior lässt nicht locker. Sie nervt mit ihrer Wissbegierde. Sogar ihr Vater, der sie sonst nie tadelt, wird mitunter ärgerlich und weist sie zurecht. Martheli weiss genau, dass sie «ke Komedi» machen und keine eigene Meinung haben soll.
Trägt Martha Lebensmittel von Mutters Laden in die Nuntiatur, nimmt sie die Küchenschwester mit in den Vorratskeller ganz hinten im Untergeschoss. Je weiter es nach hinten geht, desto ehrfürchtiger ist es dem Mädchen zumute. Im Keller angekommen, steckt ihr Schwester Balbina fürs Bringen eine besondere Frucht zu, eine Banane, einen Pfirsich oder eine Aprikose mitten im Winter mit der Warnung: «Versteck das gut, damit es die Herren nicht sehen!» Was für Martha eine seltene Kostbarkeit darstellt, ist für die Herren der Nuntiatur Alltagskost. In der diplomatischen Vertretung des Heiligen Stuhls gehen prominente Gäste ein und aus: Botschafter, Bundesräte, und spätere Päpste wie Angelo Giuseppe Roncalli, der Nuntius von Frankreich und künftige Johannes XXIII.