Göttliche Natur?
Formationen im Erdbebendiskurs der Schweiz des 18. Jahrhunderts
Broschur
2007. 312 Seiten, 4 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-0858-7
CHF 48.00 / EUR 32.00 
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Am Ausgang des 18. Jahrhunderts forderte ein anonymer Zeitungsleser anlässlich der Erdbebenserie im Rheintal von 1795/96 die «Naturkenner» des Landes auf, eine «gemeinverständliche Erklärung der natürlichen Ursachen der Erdbeben» zu geben. Einige Zeitzeugen würden behaupten, «der liebe Gott» sei schuld an Erdbeben, andere «der leidige Franzos». Wieder andere interpretierten Erdbeben als Vorboten göttlicher Strafgerichte oder kommender goldener Zeiten. Solche Deutungen konnten, zumal in den Augen des Schreibers, zu einer dienlichen Begründung von Erdbeben allerdings nur wenig beitragen.
Zu einem Zeitpunkt also, als Berichte über politische Unruhen und Wirren das Alltagsgeschehen bestimmten, wurde der Ruf nach einer angemessenen Erklärung seismischer Phänomene laut. Das Beispiel zeigt, dass am Ende eines Jahrhunderts, das dem -Ideal des klaren Erkennens verpflichtet war, verschiedene Deutungsmuster zur Disposition standen. Dies wirft die Frage auf, welche Kenntnisse die Menschen im 18. Jahrhundert über Erdbeben hatten, woher dieses Wissen stammte und wozu es diente.
Die vorliegende Untersuchung interessiert sich dafür, wie Wissen über Erdbeben hergestellt wurde, welche Deutungszusammenhänge und Kontexte den Boden dazu bereiteten, in welchen Kommunikationsnetzen darüber gesprochen wurde und wie dieses Wissen zwischen den verschiedenen Feldern zirkulierte. Die Koexistenz aufklärerisch inspirierter und traditionell-providentialistischer Interpretationsansätze wird dabei ebenso erörtert wie die soziale, gruppenspezifische Verortung des Wandels dieser Ansätze. Dabei lässt sich festhalten: Nicht Rationalismus und Universalismus kennzeichnen den untersuchten (Zeit-)Raum, wenngleich sie dies auch tun. Vielmehr zeigte sich, dass sich im Zusammenhang mit der Problematisierung des Phänomens Erdbeben vielfältige Diskursformen und kulturelle Praktiken ausbilden konnten, die dem Ziel dienten, die natürliche Welt zu verstehen, sie zu erklären und sie zumindest ansatzweise zu beherrschen.

ist freischaffende Historikerin (www.unternehmengeschichte.ch) und Dozentin an ETH und Universität Zürich. Sie forscht und lehrt zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von Umwelt und Energie.


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Inhalt
Einleitung
1 Von Gängen und Höhlen, von Gott und den Franzosen: Problemstellung
2 Ordnung und Schönheit des Weltgebäudes: Konzepte
3 Schichten und Formationen: Gang der Untersuchung

1 Erdbebenforschung als Naturgeschichte: Johann Jakob Scheuchzer
1.1 Die Zeit um 1700
1.2 Scheuchzers Erdbebenforschung im Rahmen seiner Lehre zur Entstehung der Erde (Geogonie)
1.3 Straftheologie oder Naturtheologie?
1.4 Kompilieren und ordnen

2 Beobachten, sammeln und messen: Erdbebenwahrnehmung im Korrespondentennetz Johann Jakob Scheuchzers
2.1 Korrespondenzen als historische Quellen
2.2 Der Theologe als Naturforscher: Johann Jakob Hug
2.3 Experimentelle Erdbebenforschung: Moritz Anton Kappeler
2.4 Von Schichten und Strömen: Johann I Bernoulli und Johannes Scheuchzer
2.5 Erdbeben als Zornzeichen Gottes: Zur populären Deutung seismischer Phänomene

3 Optimismus und Theodizee: Die Ereignisse von 1755 im Spiegel des Schweizer Protestantismus
3.1 Das «Erdbeben von Lissabon» und die Schweiz
3.2 Voltaires Erdbebengedicht im Streit um die Deutungsmacht
3.3 Interpretationsvielfalt und theologische Perspektive: Reaktionen im Umfeld Voltaires
3.4 Die Resonanz im Korrespondentennetz Albrecht von Hallers

4 Protestantische Erdbebendeutung zwischen Ereignisschilderung, Theologie und Naturforschung: Elie Bertrand
4.1 Leben und Werk
Exkurs: das Ereignis vom 9. Dezember 1755
4.2 Das Erdbeben als Aufruf zu Busse und Umkehr: Deutungssegmente in Elie Bertrands Predigten
4.3 Wissenschaft und Theologie: Die Vorarbeiten
4.4 Gottes Ordnung im Archiv der Natur
4.5 «Plier la nature à ses idées»: Die Ursachendiskussion in Elie Bertrands Schriften

5 «Gott hat angeklopft» – Interpretationsverfahren in protestantischen Predigten als Antwort auf die Ereignisse von 1755
5.1 Predigten im Spannungsfeld von Theologie und Naturwissenschaft
5.2 Erdbeben als Zornzeichen Gottes: Zur theologischen Deutung seismischer Phänomene
5.3 «Die Welt als die allervollkommenste Maschine»: Providenzargument und physikalische Gesetze

6 Wissensformen von Erdbeben
6.1 «Eine deutliche und gemeinverständliche Erklärung»: Erdbeben zwischen Information und Wissensspeicherung
6.2 Nachrichten von ‹Merkwürdigkeiten›: Die Darstellung von Erdbeben in Zeitungen
6.3 Die Zusammenschau allen Wissens: Das Stichwort Tremblemens de terre in der Encyclopédie d’Yverdon

7 Von Erdbeben, Elektrizität und den Alpen: Horace-Bénédict de Saussure
7.1 Leben und Werk
7.2 Forschung zwischen Empirie und Zweifel
7.3 «Dans les Alpes rien de constant que leur variété»: Seismische Phänomene im Kontext der Orogenie Horace-Bénédict de Saussures
7.4 Krise, und das Auftauchen einer neuen Theorie: Elektrizität und Erdbeben

Sedimente

Pressestimmen
«Monika Gisler legt mit ihrer Basler Dissertation einen klugen, dicht geschriebenen und auf breiter Quellenbasis basierender Beitrag zur Geschichte des Wissens im 18. Jahrhundert vor. […] Gislers kompetente Studie ist ein eindrücklicher Beleg für die Koexistenz ‹religiöser› und ‹säkularer› Muster in der Naturerforschung der Aufklärungszeit, in welcher Säkularisierungsprozesse in unterschiedlichen sozialen Gruppen und Kontexten ganz unterschiedlich abliefen.» Heike Bock, Zeitschrift für Historische Forschung

«Gisler, die mehrere Jahre als Historikerin für den Schweizerischen Erdbebendienst tätig war, bedient mit ihrer Arbeit aber nicht nur die Kulturwissenschaft, sondern auch die stärker naturwissenschaftlich ausgerichtete Seismologie, deren Hauptanliegen bei der Rekonstruktion historischer Erdbeben vornehmlich die aktuelle Risikoeinschätzung für eine Region ist.» Christian Rohr, Schweizerische Zeitschrift für Geschichte