Die Schweiz und das Russische Reich 1848–1919
Geschichte einer europäischen Verflechtung
Die Schweiz und der Osten Europas, Band 10
Gebunden
2004. 632 Seiten, 20 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-0637-8
CHF 78.00 / EUR 52.00 
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Die europäische Geschichte kennt wohl kaum zwei unterschiedlichere Staatswesen als den schweizerischen Bundesstaat von 1848 und das Zarenreich. Ganz abgesehen von der nicht vergleichbaren Grösse und Macht der beiden Länder standen sich hier konträre politische Systeme und Kulturen gegenüber: Während die zarische Autokratie ihre Untertanen mit eiserner Hand kontrollierte und nach aussen die Rolle einer europäischen Führungsmacht spielte, kultivierte die liberale Schweiz eine kleinstaatliche Selbstgenügsamkeit, die sich für Verbesserungen im Innern interessierte und auf eine aktive Aussenpolitik weitgehend verzichten zu können glaubte. Die Zarenherrschaft erschien den Schweizern als despotisch und rückständig; umgekehrt sah St. Petersburg in der liberalen Entwicklung der Eidgenossenschaft und besonders in ihrer toleranten Asylpolitik einen gefährlichen Ausdruck politischer Dekadenz.
Dass die beiden Staaten trotz dieser Gegensätze rege Beziehungen unterhielten, liegt einerseits in den strategischen Interessen der zarischen Europapolitik begründet; andererseits war durch die massenhafte Auswanderung schweizerischer Arbeitskräfte ins Zarenreich und durch die Anwesenheit zahlreicher, teilweise gewaltbereiter russischer Dissidenten in der Schweiz eine spannungsvolle Wechselseitigkeit gegeben.
Die vorliegende Studie skizziert auf der Grundlage umfangreicher schweizerischer und russischer Archivmaterialien den offiziellen Kontakt zwischen Bern und St. Petersburg (bzw. Petrograd) in den Jahren 1848-1919, also von der Gründung des schweizerischen Bundesstaates bis zum Abbruch der Beziehungen nach der Oktoberrevolution. Der Autor beleuchtet in vier Kapiteln die institutionellen Voraussetzungen des bilateralen Austauschs, die Krisen der politischen Beziehungen in den Umbruchsjahren um 1848 und 1917 sowie die Entfaltung eines diplomatischen Courant normal in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Dabei wird die Sphäre des Politischen in ihrer Wechselwirkung mit sozialen und kulturellen Gegebenheiten betrachtet; die Lebensumstände der schweizerischen Konsuln im Zarenreich interessieren ebenso wie die spezifischen Loyalitäten russischer Staatsdiener oder der Zusammenprall gegensätzlicher Wahrnehmungsmuster. Durch ihre Verortung im internationalen Kontext wird die schweizerisch-russische Verflechtung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts überdies als Schauplatz einer europäischen Gesamtentwicklung verständlich gemacht.

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Besprechungen
Spannungsvolle Beziehung Die Schweiz und das Zarenreich Die Errichtung des schweizerischen Bundesstaats im Jahr 1848 musste in den Augen der russischen Monarchie höchsten Argwohn hervorrufen: Der konservative Zar Nikolaus I. hatte bereits bei seiner Thronbesteigung 1825 mit einer Revolte junger Adliger zu kämpfen, 1830 schlug er den polnischen Novemberaufstand nieder, 1849 intervenierte er militärisch in Ungarn. Ein solches Schicksal blieb der Schweiz erspart, weil sie sich ausserhalb des russischen Einflussbereichs befand. Allerdings markierten die Ereignisse des Jahres 1848 eine tiefe Zäsur in den schweizerisch- russischen Beziehungen: Erst nach Nikolaus' Tod im Jahr 1855 anerkannte Russland den Bundesrat als legitime Regierung der Schweiz. Die Geduld der russischen Aussenpolitik wurde schon ein Jahr später erneut auf die Probe gestellt: In der Ausgliederung Neuenburgs aus der preussischen Monarchie sah man in Russland eine gefährliche republikanische Tendenz. Der Zürcher Osteuropahistoriker Peter Collmer deutet solche Konflikte in seiner breit angelegten Studie über die gegenseitige Wahrnehmung der Schweiz und des Zarenreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als «diskursive Inkongruenz» zweier politischer Systeme, die einerseits auf autokratischer Herrschaft und andererseits auf politischer Partizipation beruhen. Obwohl Alexander II. eine deutliche Liberalisierung eingeleitet hatte, die bereits damals als «Glasnost» bezeichnet wurde, konstatiert Collmer in der russischen Aussenpolitik ein Festhalten an der traditionellen Kriminalisierung politischer Gegnerschaft: 1856 berichtete der russische Gesandte aus Bern seinem Aussenminister vom «bösen Willen» des Bundespräsidenten Stämpfli, der mit seiner Politik in Sachen Neuenburg einen «revolutionären Weltenbrand» entfachen wolle. Der wahre Kern solch phantastischer Anschuldigungen lag in der geheimen Sympathie, mit der man in der Schweiz politische Proteste gegen die russische Autokratie verfolgte. Während der Terrorismuswelle der 1860er und 1870er Jahre fanden viele Revolutionäre politisches Asyl in der Schweiz; 1873 schloss die russische Regierung deshalb mit der Schweiz einen Auslieferungsvertrag, nach dem Verbrecher allerdings nur dann ausgeliefert werden konnten, wenn ihre Tat nach den Gesetzen beider Signatarstaaten strafbar war. Der Fall des Terroristen Sergei Netschajew zeigt indes, dass die Bundesbehörden zumindest versuchten, betroffene Personen zu warnen und sie dadurch vor einer drohenden Verhaftung zur Ausreise aus der Schweiz zu bewegen. Die Stärke von Collmers Buch liegt nicht nur in einer geschickten Auswahl repräsentativer Fallbeispiele, sondern auch im luziden Nachweis der Unterschiede in der politischen Kultur der beiden Staaten, die sich jeweils als den grundlegend «Anderen» wahrnahmen. Ulrich M. Schmid Peter Collmer: Die Schweiz und das Russische Reich 1848-1919. Geschichte einer europäischen Verflechtung. Chronos-Verlag, Zürich 2004. 650 S., Fr. 78.-. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung. Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Donnerstag, 08.07.2004 Nr.156 45 (c) 1993-2004 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 2