Spannungsvolle Beziehung
Die Schweiz und das Zarenreich
Die Errichtung des schweizerischen Bundesstaats im Jahr 1848 musste in den Augen der russischen Monarchie höchsten Argwohn hervorrufen: Der konservative Zar Nikolaus I. hatte bereits bei seiner Thronbesteigung 1825 mit einer Revolte junger Adliger zu kämpfen, 1830 schlug er den polnischen Novemberaufstand nieder, 1849 intervenierte er militärisch in Ungarn. Ein solches Schicksal blieb der Schweiz erspart, weil sie sich ausserhalb des russischen Einflussbereichs befand. Allerdings markierten die Ereignisse des Jahres 1848 eine tiefe Zäsur in den schweizerisch- russischen Beziehungen: Erst nach Nikolaus' Tod im Jahr 1855 anerkannte Russland den Bundesrat als legitime Regierung der Schweiz. Die Geduld der russischen Aussenpolitik wurde schon ein Jahr später erneut auf die Probe gestellt: In der Ausgliederung Neuenburgs aus der preussischen Monarchie sah man in Russland eine gefährliche republikanische Tendenz.
Der Zürcher Osteuropahistoriker Peter Collmer deutet solche Konflikte in seiner breit angelegten Studie über die gegenseitige Wahrnehmung der Schweiz und des Zarenreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als «diskursive Inkongruenz» zweier politischer Systeme, die einerseits auf autokratischer Herrschaft und andererseits auf politischer Partizipation beruhen. Obwohl Alexander II. eine deutliche Liberalisierung eingeleitet hatte, die bereits damals als «Glasnost» bezeichnet wurde, konstatiert Collmer in der russischen Aussenpolitik ein Festhalten an der traditionellen Kriminalisierung politischer Gegnerschaft: 1856 berichtete der russische Gesandte aus Bern seinem Aussenminister vom «bösen Willen» des Bundespräsidenten Stämpfli, der mit seiner Politik in Sachen Neuenburg einen «revolutionären Weltenbrand» entfachen wolle. Der wahre Kern solch phantastischer Anschuldigungen lag in der geheimen Sympathie, mit der man in der Schweiz politische Proteste gegen die russische Autokratie verfolgte.
Während der Terrorismuswelle der 1860er und 1870er Jahre fanden viele Revolutionäre politisches Asyl in der Schweiz; 1873 schloss die russische Regierung deshalb mit der Schweiz einen Auslieferungsvertrag, nach dem Verbrecher allerdings nur dann ausgeliefert werden konnten, wenn ihre Tat nach den Gesetzen beider Signatarstaaten strafbar war. Der Fall des Terroristen Sergei Netschajew zeigt indes, dass die Bundesbehörden zumindest versuchten, betroffene Personen zu warnen und sie dadurch vor einer drohenden Verhaftung zur Ausreise aus der Schweiz zu bewegen. Die Stärke von Collmers Buch liegt nicht nur in einer geschickten Auswahl repräsentativer Fallbeispiele, sondern auch im luziden Nachweis der Unterschiede in der politischen Kultur der beiden Staaten, die sich jeweils als den grundlegend «Anderen» wahrnahmen.
Ulrich M. Schmid
Peter Collmer: Die Schweiz und das Russische Reich 1848-1919. Geschichte einer europäischen Verflechtung. Chronos-Verlag, Zürich 2004. 650 S., Fr. 78.-.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Donnerstag, 08.07.2004 Nr.156 45
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