Frauen vor Gericht
uha. Die Historikerin Sibylle Malamud hat in ihrer Dissertation, die sich um die soziale Bedingtheit von Kriminalität und Geschlecht dreht, Zürcher Gerichtsquellen aus dem Spätmittelalter bearbeitet und sich dabei besonders auf die in die Rechtsfälle involvierten Frauen konzentriert. Sie hat kenntnisreich den neusten Forschungsstand nicht nur der «historischen Kriminalitätsforschung», sondern (unter anderem) auch der Diskurstheorie und der Sozialgeographie referiert; sie hat zahlreiche Fälle statistisch ausgewertet (etwa nach «geschlechtsspezifischer Deliktstruktur» und Tatorten), aber auch auf die narrativen Muster der Frauen hin interpretiert; sie hat deren «Sozialprofile» erstellt, die beteiligten Konfliktparteien rekonstruiert und die Konfliktorte identifiziert. Auf einer allgemeinen Ebene gelingt es der Autorin, die eine beeindruckende Fülle an Ergebnissen präsentiert (so stammten viele Delinquentinnen gerade nicht aus den untersten Schichten, und die männliche Justiz handelte nicht, wie oft behauptet, frauenfreundlich), das Gericht als Ort zu entlarven, wo Machtverhältnisse gefestigt und gesellschaftliche «Realitäten» produziert werden. Indes fehlt der Studie eine Mitte. Zu viele Fragestellungen (aus beinahe jedem Kapitel hätte man ein eigenes Buch machen können) und zu viele Theorien hemmen den Gang der Untersuchung und bringen letztlich die Quellen zum Verstummen.
Sibylle Malamud: Die Ächtung des «Bösen». Frauen vor dem Zürcher Ratsgericht im späten Mittelalter (1400-1500). Chronos-Verlag, Zürich 2003. 379 S., Fr. 58.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Samstag, 27.09.2003 Nr.224 48
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