Rudolf Brauns Aufsätze
tmn. Eine im schweizerischen Vergleich selten grosse Zahl von Lizentiaten
und Promovierten zeugt davon, wie inspirierend der Wirtschafts- und
Sozialhistoriker Rudolf Braun als Lehrer vor allem in Zürich gewirkt hat
(vgl. NZZ 18. 4. 00). Er gehört aber auch zu den wenigen Eidgenossen, die
internationale Wirksamkeit beanspruchen können, namentlich in Deutschland
und im angelsächsischen Sprachraum - vor allem durch die Kombination eines
volkskundlichen Blicks auf den Alltag mit einer theoriegeleiteten Analyse
gesellschaftlicher Strukturen. Ein Vielschreiber war Braun dabei nie; auch
viele seiner Aufsätze, die jetzt in einem schmalen, aber gehaltvollen Band
vereint vorliegen, ergaben sich aus einem Vortrag, der in der guten alten
Zeit nicht schon automatisch im Hinblick auf eine Drucklegung gehalten
wurde. Den Anfang macht eine 1958 in den «Zwingliana» veröffentlichte
Seminararbeit des Nebenfachhistorikers, der zeigte, wie Zwinglis
domestiziertes Modell eines reformierten Hauptmanns und eine etatisierte
Kriegsführung in Kappel dem undisziplinierten Ansturm einer frei
organisierten Jungmannschaft unterlagen, der das Reislaufen Inhalt und
Elixier des Lebens war. Entwicklungsländer, Unternehmerverhalten und
Wirtschaftstheorie werden in weiteren Arbeiten ebenso behandelt wie die
Professionalisierung des Ärztestands oder der «gelehrige» Körper.
«Obenbleiben» schliesst den Band ab: Eliten transferieren ökonomisches,
soziales und kulturelles Kapital, indem sie über Generationen hinweg
Familienmitglieder unter Hinweis auf Tradition und «Ehre» in Verantwortung
nehmen - und sie so, etwa zugunsten von Heiratsstrategien, zu
Verzichtleistungen zwingen können.
Rudolf Braun: Von den Heimarbeitern zur europäischen Machtelite. Ausgewählte
Aufsätze. Chronos-Verlag, Zürich 2000. 252 S., Fr. 48.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON 17.06.2000 Nr. 139 68