Im Lande des Blutes und der Tränen

Erlebnisse in Mesopotamien während des Weltkrieges (1914–1918)

Herausgegeben und eingeleitet von Hans-Lukas Kieser

ZeitZeugnisse
Broschur
1999. 3. Auflage 2016 (Originalausgabe 1921).
200 Seiten, 8 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-905313-06-2
CHF 34.00 / EUR 31.00 
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Der Appenzeller Jakob Künzler (1871–­1949), der sich in Basel zum Krankenpfleger hatte ausbilden lassen, arbeitete von 1899 bis 1922, zusammen mit seiner Frau, in einem Missionsspital in der multiethnischen osmanischen Stadt Urfa (heutige Südosttürkei). «Bruder Jakob», wie er in der Stadt genannt wurde, war ein sehr kommunikativer Mensch und sprach unter anderem türkisch, armenisch, arabisch und kurdisch.
Jakob Künzlers Buch von 1921 ist einer der wichtigsten neutralen Augenzeugenberichte der armenischen Tragödie im Ersten Weltkrieg. Der Autor erlebte hautnah, wie das jungtürkische Kriegsregime den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts verübte. Von Anfang an war ihm klar, was die Deportationen sowie die Eliminierung von Aufständischen bedeuteten.
Als langjährige medizinische Fachperson in Urfa wurde er von den verschiedenen Gruppen, Faktionen und Ethnien als Autorität anerkannt. Dies befähigte ihn, die bis heute widersprüchlich dargestellten Ereignisse auf verschiedenen Stufen, bis hinauf zu derjenigen der Machthaber vor Ort, wahrzunehmen. Seinen erschütternden Bericht hat er in einer klaren, ungeschminkten Sprache geschrieben.

Das 1921 in Deutschland herausgegebene Buch ist längst vergriffen und nur in wenigen Bibliotheken auffindbar. Mit dieser Neuauflage wird dieses seltene Dokument einem interessierten Publikum und der historischen Wissenschaft wieder zugänglich gemacht. Eine Einleitung mit biographischen Angaben und historischen Erläuterungen des Herausgebers Hans-Lukas Kieser sowie Berichte Künzlers aus den Jahren 1919­1921 ergänzen dieses wichtige Zeitzeugnis.

Textauszug

Erst nachdem die Männer in den Moscheehöfen und in den Gefängnissen sämtlich erledigt waren, sollte der Abtransport der Frauen und Kinder beginnen. Deren seelische Nöte waren inzwischen aufs höchste gestiegen. Wer könnte das alles in Worten wiedergeben? Meine Frau, die jeden Tag in diese Lager ging, erblickte Unbeschreibliches. Ich betrat die Lager in den ersten Tagen täglich, meist um mich noch der Verwundeten anzunehmen, welche noch aus der Belagerung stammten. Als ich einmal mit Brot erschien, riefen mir die Frauen zu: «Brot bringst du uns? Uns, den Kindern des Todes? Nein, bringe nicht Brot, aber Gift, viel Gift. Ach, lass uns nicht abtransportiert werden, sorge dafür, dass wir hier sterben können. Du weisst selbst, was es heisst, in die Steppe geführt zu werden!» [...]
Und die Mütter mit ihren Säuglingen! Die Milchquellen waren längst versiegt, andere Nahrung gab es nicht. Wenige Mütter nur fanden den Mut, ihre Kinder in den Wasserlauf zu werfen, damit sie schnell erlöst sein würden. So legte man sie in


Pressestimmen

«Künzler schildert mit einfachen Worten, dafür um so eindringlicher, das Alltagsleben in einer multiethnischen türkischen Stadt am Vorabend und während des 1. Weltkrieges. … Künzler bemüht sich sichtlich, Pauschalverurteilungen zu vermeiden.»
Peter Bartl, Das Historisch-Politische Buch


«Einer der wenigen westlichen Zeitzeugen dieser Vertreibung war der Appenzeller Krankenpfleger Jakob Künzler, der zu dieser Zeit in der Stadt Urfa ein Missionsspital leitete. Die in Vergessenheit geratenen Schilderungen dieses grossen Humanisten wurden vor kurzem neu aufgelegt. Die Lektüre dieses ergreifenden Berichts lässt nur einen Schluss zu: Die Armenier-Vertreibung war ein organisierter Massenmord.»
Neue Zürcher Zeitung


«Es war und ist bis heute einer der wenigen Augenzeugen-Berichte über das Völkermordgeschehen in dieser Stadt. Weil das Buch selbst in Bibliotheken nur noch schwer zu bekommen ist, macht ein Reprint besonderen Sinn.»
Mittelweg 36


Besprechungen

Ein Schweizer in Urfa 1914–1918

Um es vorwegzunehmen, «Im Lande des Blutes und der Tränen» ist kein leicht zu lesendes Buch, es ist ein bedrückendes Buch, das von grossem Elend und Leid handelt: den Armenierdeportationen durch die Jungtürken zu Beginn unseres Jahrhunderts. […]
Jakob Künzler, der Augenzeuge, war als Zimmermann und als Krankenpfleger ausgebildet und hat von 1899–1922 in der von vielen Kulturen geprägten südostanatolischen Stadt Urfa gelebt. Hier kreuzten sich die Deportiertenzüge aus dem Norden, hier erfuhr er von den Betroffenen die furchtbaren Ereignisse. Urfa war auch einer der wenigen Orte, an dem die Armenier bewaffneten Widerstand leisten konnten. Zusammen mit der tatkräftigen Unterstützung seiner Frau Elisabeth hat Künzler dort im «Schweizer Spital» jahrelang nicht nur die Arbeit eines Arztes geleistet, sondern auch für alle Bedürftigen und Bedrängten Hilfsaktionen in die Wege geleitet und durchgeführt. Für seine Tätigkeit wurde ihm 1947 die medizinische Ehrendoktorwürde der Universität Basel verliehen. Das «Schweizer Spital» war zwar bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Teil der Deutschen Orient-Mission, die finanzielle Unterstützung kam aber hauptsächlich aus Basel, und so ist dieses Buch zugleich ein Dokument des Basler Engagements in Urfa und im Armenischen Hilfswerk.
«Wenn ich mich anschicke, meine Erlebnisse und Beobachtungen […] niederzuschreiben, so geschieht es in erster Linie dadurch, weil ich der einzige Neutrale bin, der all die fürchterlichen Geschehnisse […] von Anfang bis zum Ende mit angesehen hat», beginnt Künzler, und in dieser Zeugenschaft liegt der Wert und die Einzigartigkeit seines Berichts. Künzler stand nicht nur mit den Armeniern in enger Beziehung, sondern auch mit Arabern, Türken, Kurden und orientalischen Christen, deren Sprachen er beherrschte, sowie mit der jüdischen und griechischen Diaspora. Dies ermöglichte ihm vielfältige Einblicke in die verwickelten und schwer durchschaubaren Verhältnisse und ist die Grundlage seines «neutralen» Zeugnisses. Bitter ist seine Erfahrung, dass trotz dringender Appelle an die Konsuln der in Aleppo vertretenen Staaten kaum Hilfe von aussen kam.
[…]

Gudrun Schubert, Basler Magazin 11. September 1999

[…]
Urfa war 1915 ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, und so ist es für den Historiker ein Glücksfall, dass Künzler dort tätig war: Züge von Deportierten aus dem Norden und Osten der Türkei passierten Urfa auf ihrem Weg nach Aleppo. So wurde Künzler gewahr was die Armenier während der Todesmärsche zu erleiden hatten: sexuelle Ausbeutung, Folter, Hunger. Künzler fügt seinem eigenen Bericht Gespräche bei, die er mit Entflohenen der Märsche führen konnte. Gemäss Künzler waren die Armenier also nicht Opfer eines Kampfes zweier Nationalitäten, sondern eines mit modernen Mitteln durchgeführten Völkermordes, der von Kommissaren der Zentralgewalt systematisch durchgeführt wurde.
Wie verhält es sich mit der Qualität der Quelle? War Künzler als Missionsmitarbeiter nicht befangen? Seine Berichterstattung scheint ausgewogen. Gewiss, zeitbedingte stereotype Bilder begegnen dem Leser hin und wieder. Künzler dafür anzuprangern, wäre indes anachronistisch. Künzler vermeidet es, das Zerrbild des «grausamen Türken» zu zeichnen. Vielmehr berichtet er von Türken, die ihr Leben riskiert haben, um Armenier zu retten. Überdies beschreibt Künzler die Deportation der Kurden, die zuvor an den Ausschreitungen gegen die armenische Bevölkerung ebenfalls beteiligt waren. Was zudem für die Unabhängigkeit der Quelle spricht, ist Künzlers Nationalität. Als Bürger eines neutralen Landes kam er in keinen Interessenkonflikt wie z.B. deutsche Missionare, deren Nation bis 1918 engster Verbündeter der Jungtürken war.
«Im Lande des Butes und der Tränen» ist nicht nur als historische Quelle zu lesen. Es ist überdies die Geschichte eines philantropischen Pragmatikers, der Solidarität nicht nur predigte. Unter Einsatz seines Lebens versteckte er entflohene Armenier und setzte sich für die Waisen der Getöteten ein. Etwas naiv mutet seine Hoffnung an, Armenier und Türken könnten trotz all der tragischen Ereignisse nach Kriegsende wieder wie «Geschwister zusammenleben», sie zeugt dafür von einem unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen.
[…]

Dominik Schaller, Schweizer Zeitschrift für Geschichte 4/1999

Filmbeitrag von Paolo Tognina auf RSI

Diee Buchreihe ist aus der Idee erwachsen, relevante Quellentexte lebender und verstorbener Menschen sowohl der Forschung als auch einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Dabei kann es sich um Reprints vergriffener Berichte handeln, wie zum Beispiel «Im Lande des Blutes und der Tränen», ein Augenzeugenbericht des Völkermordes an den Armeniern, oder um Editionen von Tagebüchern und Briefwechseln.