Private Hilfe und Beschränkungspolitik
Die Aktionen zugunsten von Flüchtlingskindern 1933-1947
Von Georg Kreis
Die offizielle Haltung der Schweiz gegenüber den Flüchtlingen in der Zeit
des Nationalsozialismus war nicht die ganze Realität. Privates Engagement
stand in Spannung zur Politik der Behörden, ergänzte diese aber auch in
willkommener Weise, wie es eine historische Untersuchung deutlich macht. -
Der Rezensent, Professor in Basel, ist Mitglied der Bergier-Kommission.
Der Flüchtlingsbericht der Bergier-Kommission bedarf der Ergänzung - das
denken manche, aber mit unterschiedlichen Erwartungen. Eine dieser
vertiefenden Ergänzungen hat Antonia Schmidlin sogar noch vor Erscheinen des
Expertenberichts vorgelegt. Ihre Basler Dissertation dokumentiert und
analysiert die grösstenteils von Frauen - von «Stauffacherinnen» -
geleistete Hilfe für Kriegskinder, einerseits im Ausland in Kinderheimen,
andererseits im Inland durch die Vermittlung von dreimonatigen
Erholungsferien. Bezeichnenderweise erhielt die ausserterritoriale Hilfe
(vor allem in Frankreich) keinen prominenten Platz im kollektiven
Gedächtnis, während die von der offiziellen Schweiz propagandistisch
ausgewerteten Erholungsferien im helvetischen Kurgarten fester Bestandteil
des Geschichtsbildes geworden sind. Die Aufmerksamkeit gegenüber den
«Kinderzügen» hat in jüngster Zeit sogar zugenommen, weil bekannt wurde,
dass jüdische Kinder von dieser Hilfe ausgeschlossen waren. Der
Ludwig-Bericht von 1957, darauf bedacht, eine möglichst hohe Flüchtlingszahl
auszuweisen, hat die jungen Feriengäste (etwa 60 000) in die Statistik
aufgenommen und ist so auf die rund 300 000 «Flüchtlinge» gekommen - den
Ausschluss der «nichtarischen» Kinder hat er aber verschwiegen.
Schmidlins Arbeit verdient es in mehrfacher Hinsicht, beachtet zu werden:
Erstens, weil sie den noch immer zu wenig systematisch erfassten privaten
Helferwillen untersucht; zweitens, weil sie die spezifische Problematik
eines speziellen Helferinnenmilieus darstellt; und drittens - dies ist in
der gegenwärtigen Debatte wahrscheinlich der wichtigste Beitrag -, weil sie
die Reaktion der Behörden beziehungsweise der im Namen der offiziellen
Schweiz handelnden Personen weiter verdeutlicht.
Weibliche Eigeninitiative
Die private Kinderhilfe, deren Anfänge in die Zeit des Ersten Weltkrieges
zurückgehen, erhielt 1933 mit der Gründung des Schweizer Hilfswerks für
Emigrantenkinder (SHEK, 1934-1947) ihre erste organisatorische Form. Im
Januar 1940 verband es sich mit 16 anderen Organisationen zur
Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder (SAK,
1940-1941). Das Hilfswerk unterhielt schon 1934 in Frankreich ein Heim für
deutsche Emigrantenkinder und vermittelte erste Ferienplätze in der
Schweiz. Später beteiligte es sich mit anderen an einem Evakuationsdienst
im Spanischen Bürgerkrieg, 1938 gelang ihm sogar die permanente Aufnahme
von 300 jüdischen Kindern. - Die Hilfsbereitschaft beruhte nicht einzig auf
einem universalen Humanitätsverständnis, sondern lebte auch, der Zeit
gemäss, von einem ausgesprochen patriotischen Gedanken: Die Kinderheime im
Elendsgebiet wurden als Aussenposten der Schweiz gestaltet und entsprechend
dekoriert, in Südfrankreich wurden 1940 «echte» Schweizer Weihnachten
gefeiert, es wurde «Wilhelm Tell» aufgeführt. Die Privathilfe, so meinte
man, sei echte «Schweizerart» und sollte den guten Ruf des Landes stärken.
Politische Brisanz
Der Trägerkreis der Hilfsstrukturen war vornehmlich von Frauen geprägt: von
Friedel Bohny-Reiter, Georgine Gerhard, Anne-Marie Im Hof-Piguet, Regina
Kägi-Fuchsmann, Rösli Näf, Helene Stucki, Nettie Sutro und vielen anderen.
Sie waren mehrheitlich bürgerlicher Herkunft, aber parteiübergreifend tätig;
vernetzt unter sich, aber anfänglich mit wenigen Beziehungen nach aussen
oder «oben»; für eine zunächst apolitische, «mütterlichen Regungen»
entsprechende Humanität engagiert, aber mit der Zeit zwangsläufig einer
gewissen Politisierung ausgesetzt und schliesslich, notgedrungen, bereit,
mit dem - ebenfalls ausführlich beschriebenen - Kinderschmuggel die Grenzen
der Legalität zu überschreiten. Alle an den illegalen Rettungsaktionen
beteiligten Frauen wurden 1942/43 entlassen. Die Verfasserin will
Interpretationen, welche im illegalen Handeln bloss emotionale und gar
krankhafte (psychotische), jedenfalls «weiblich»- unpolitische Regungen
sehen wollen, nicht gelten lassen und hält dem die Auffassung entgegen, dass
die Reaktion der männlich-offiziellen Welt gerade darum derart scharf
ausfiel, weil sie die politische Brisanz des zivilen Ungehorsams erkannt
habe.
Kanalisierung des Helferwillens
Das grosse private Engagement wird in dieser Arbeit deutlich sichtbar, es
ging, nicht unerwartet, weit über das hinaus, was den Behörden recht und
willkommen war. Weiterhin schwer fassbar bleibt jedoch die Hilfsbereitschaft
«grosser Teile der Bevölkerung», auf die sich die Exponentinnen in ihren
Auseinandersetzungen mit den Behörden gerne beriefen. Immer wieder bestand
eindeutig ein ungenutztes Überangebot an Freiplätzen. Die Befürchtung, dass
temporäre Pflegeeltern «ihre» Kinder behalten wollten, wenn diese nach den
Erholungsferien unter Umständen nicht mehr ins Herkunftsland zurückkehren
könnten, zeigt ebenfalls den grossen Helferwillen. Der Flüchtlingsdelegierte
des Bundesrats, Edouard de Haller, sprach im September 1942 abschätzig von
einer «vague de générosité simpliste qui sévit dans le pays». Antonia
Schmidlin kommt zum Schluss, dass die Behörden die Bevölkerung quasi vor der
eigenen Aufnahmebereitschaft schützen wollten.
Andererseits war den Behörden die private Hilfsbereitschaft gut genug, im
Sommer 1941 ohne Absprache mit den betreffenden Organisationen auch dem
Dritten Reich Kinderhilfe anzubieten und auf diese Weise für die
Wirtschaftsverhandlungen ein günstiges Klima zu schaffen. Das zunehmende
offizielle Interesse an der Privathilfe und auf der anderen Seite die
wachsende Abhängigkeit der Helferinnen von der staatlichen Unterstützung
führten zu einer Überführung beziehungsweise Unterstellung der Kinderhilfe
in den Verantwortungsbereich des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK;
1942-1947), einer damals völlig von der Armee abhängigen Organisation.
Neben dem Kalkül, mit der Offizialisierung auch finanzielle und logistische
Unterstützung für die «Kinderzüge» zu erhalten, dürfte vor allem die im März
1941 eingeführte staatliche Bewilligungspflicht für private Sammelaktionen
diesen Schritt begünstigt haben.
Die offiziellen Stellen waren also an einer humanitären Ausstattung ihrer
Politik und der emotionalen Aufladung des «kahlen Fremdwortes Neutralität»,
wie sich Carl Jacob Burckhardt vom IKRK im September 1941 ausdrückte,
interessiert, um die Einschätzung der schweizerischen Haltung durch die
Alliierten zu verbessern und zugleich den Erwartungen in der eigenen
Bevölkerung etwas entgegenzukommen. War die Kinderhilfe als Instrument der
schweizerischen Politik einmal entdeckt, hatte die SAK keine Mühe mehr, die
gewünschten Bewilligungen zu erhalten. Gottlieb Duttweiler forderte in
seiner impulsiven Art gleich die Aufnahme von 150 000 bis 200 000 Kindern.
Im Frühjahr 1942 verlangte eine nationalrätliche Motion ebenfalls eine
grossangelegte Hilfe. Und das Kriegsernährungsamt erklärte, dass die
Ernährungslage die Aufnahme von 20 000 Kindern durchaus gestatte.
Die Rechnung ging für beide Seiten einigermassen auf, der private
Helferwille musste sich aber - insbesondere bezüglich des Ausschlusses
jüdischer Ferienkinder und des Schweigens zu den nationalsozialistischen
Verfolgungen - gegen aussen der offiziellen Politik anpassen. Im Innern
blieb, wie verschiedene Interventionen zeigen, die Opposition freilich
bestehen.
Kinder statt Erwachsene
Humanitäres Engagement war demnach für die Schweiz - unabhängig von der
daraus hervorgehenden realen Hilfe - ein ideales Mittel der aussen- und
innenpolitischen Krisenbewältigung. Und Kinderhilfe war die ideale Formel
zur Einlösung dieses Engagements. Während man bei Erwachsenen nicht sicher
war, ob sie das Land auch tatsächlich wieder verlassen und ob sie sich nicht
politisch betätigen und sogar noch Ansprüche stellen würden, war bei den
Ferienkindern klar, dass sie wieder nach Hause gingen. Zudem konnte man sie
noch etwas erziehen (ihnen Schweizer Manieren beibringen) und in ihnen
leichter die unschuldigen Kriegsopfer sehen. In der Verlängerung dieser
Tendenz war im Angebot privater Plätze eine klare Bevorzugung kleiner
Mädchen festzustellen; die meisten Knaben kamen darum in Heime.
Dass sich die Behörden mit einer gegenüber Flüchtlingskindern
entgegenkommenden Haltung in den Stand setzen wollten, um so restriktiver
gegenüber erwachsenen Flüchtlingen zu sein, war und ist offensichtlich.
Bisher fehlte aber ein expliziter Beleg. Schmidlin verweist nun, gestützt
auf den schon 1997 erschienenen Band der Diplomatischen Dokumente, auf eine
Äusserung Edouard de Hallers, der im zustimmenden Sinn die Haltung des
Chefs der Polizeiabteilung zitiert:
«Le Dr Rothmund est porté à favoriser les solutions liberales en faveur des
enfants juifs pour pouvoir insister avec plus de fermeté sur les mesures de
frontière.»
Christen und keine Juden
1942 sprachen sich die Behörden gegen das «Hereinnehmen» von jüdischen
Kindern aus, weil es im Falle von französischen Judenkindern gar nicht nötig
sei, diese «emporzufüttern», und weil die Rücknahme von nichtfranzösischen
Emigrantenkindern nicht garantiert war. Zudem: «Wenn die Verhältnisse für
Juden schlimmer werden, so werden wir unsere schweizerische Bevölkerung
nicht mehr dazu bringen, die Judenkinder wieder in diese miserablen
Verhältnisse zurückzulassen.» Befürchtet wurde eine «zu starke
Durchsetzung unserer Bevölkerung mit Juden». Für den massgebenden
Rotkreuz-Chef Oberst Hugo Remund hiess dies unzweideutig, der bestehende
Anteil von etwa einem Prozent dürfe nicht erhöht werden. Als das SRK
vorübergehend einer Aufnahme von jüdischen Kindern und Jugendlichen -
theoretisch - doch zustimmte, machte es sogleich zur Bedingung, dass sie
nach dem Krieg in jedem Fall weiterreisten und dass man sie weder adoptieren
noch einbürgern dürfe. Hingegen hätte das SRK, das Einverständnis
Frankreichs vorausgesetzt, jüdische Kinder im September 1942 gerne aus der
noch unbesetzten Zone «paketweise» nach Nordafrika gebracht, damit sie von
dort aus via Dakar nach Amerika «verfrachtet» werden könnten.
Private Helferinnen hatten es, wahrscheinlich wegen der Abhängigkeit von der
privaten Spendebereitschaft, schon 1934 ebenfalls als problematisch
empfunden, dass ihre Hilfe zum grössten Teil «nichtarischen» Kindern zugute
kam. Im Hintergrund hetzten die Frontisten, die «Judenkinder» würden den
«Schweizerkindern» Ferienplätze wegnehmen. Dennoch wehrten sich die
engagierten Frauen dagegen, dass gerade eine Kategorie von Menschen, welche
Hilfe am dringendsten brauchten, ausgeklammert werden sollte. Die
Gegenposition dazu findet sich in Äusserungen, die ebenfalls von einer Frau
formuliert wurden. Was Rosmarie Lang, die Sekretärin Remunds, am 8. Oktober
1942 an Messinger (wahrscheinlich den Rabbiner der Israelitischen
Kultusgemeinde Bern) schrieb, ist etwas vom Zynischsten, was von
«Helferseite» zur Problematik gesagt wurde:
«Die von Ihnen geschilderte Situation der deportierten Emigranten ist auch
uns wohlbekannt, aber ich muss Ihnen gestehen, dass sehr wenig Hoffnung
besteht, irgend etwas zur Milderung ihres Loses tun zu können. Sie dürfen
nicht vergessen, dass alle diese Deportationen vor sich gehen in der
bewussten Absicht, das jüdische Volk von der europäischen Erde verschwinden
zu lassen. Gegen solche Absichten ist jeder Einfluss von aussen, und käme er
auch vom Roten Kreuz, machtlos.»
Diese Erklärung ist auch eine indirekte Antwort auf die alte Frage, was
Verantwortungsträger und -trägerinnen wann über die «Endlösung» gewusst
haben. Nettie Sutro hatte schon im September 1942 nach einer Frankreichreise
berichtet, es heisse, die alten Leute würden vergast, um Knochenmehl aus
ihnen zu machen; sie wisse aber nicht, ob dies wahr sei. Hingegen wusste
sie, dass schweizerische Grenzstellen mit der französischen Polizei
zusammenarbeiteten, um Fluchtversuche scheitern zu lassen.
Antonia Schmidlins Studie bringt die Aufarbeitung der Flüchtlingsgeschichte
ein gutes Stück weiter, das Buch enthält zahlreiche neue Informationen und
einleuchtende Interpretationen zu einem Thema, das uns nach wie vor bewegt.
Wer hier mitdenken oder gar mitreden will, muss es gelesen haben.
Antonia Schmidlin: Die andere Schweiz. Helferinnen, Kriegskinder und
humanitäre Optik 1933-1942. Chronos-Verlag, Zürich 1999. 428 S., Fr. 48.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung INLAND 10.03.2000 Nr. 59 15