Eingesperrt - ausgewandert
Das Leben von Samuel Fässler und Peter Binz
Von Walter Leimgruber
Armut und Wanderung gehören im 19. Jahrhundert eng zusammen. Heimatlose,
Hausierer und «Vaganten» ziehen umher, um sich mit Gelegenheitsarbeiten und
Betteln den Lebensunterhalt zu sichern. Und die Behörden entdecken zunehmend
die Auswanderung als Mittel, ungeliebte Bevölkerungsteile loszuwerden. Zwei
Bücher beschreiben Alltag und Umfeld der Heimatlosen im Glarnerland und im
Jura.
Im Februar 1839 erreicht ein Transport von abgeschobenen Heimatlosen den
Kanton Glarus, ein «herzzerreissendes Bild», wie ein Augenzeuge berichtet.
Im von Landjägern begleiteten Wagen befinden sich - notdürftig zugedeckt mit
Stroh - auch Kinder, halb nackt und erstarrt, darunter der sechsjährige
Samuel Fässler. Genau zwölf Jahre später, im Februar 1851, lässt die Glarner
Regierung den achtzehnjährigen Fässler als «gemeingefährliches Individuum»
nach Nordamerika fortschaffen. Man wird nie wieder etwas von ihm hören. Wie
Samuel Fässler ist auch Peter Binz unehelicher Sohn einer Heimatlosen, ein
«Bastard, wie die Leute diese Kinder gewöhnlich so gerne nennen». 1846 in
Welschenrohr im solothurnischen Bezirk Thal geboren, lebt er ebenfalls für
längere Zeit im Ausland, in Frankreich, Nordamerika und Russland. Anders
als Fässler kehrt er aber wieder in die Schweiz zurück. Um 1895 schreibt er
sein «unstetes» Leben nieder, eine der seltenen Autobiographien aus den
untersten sozialen Schichten. Der «Blutschande» (Inzest) mit der Tochter
angeklagt, wird er 1896 wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen und in
die Irrenanstalt Rosegg eingewiesen, wo er 1906 stirbt. Albert Vogt hat den
«Lebenslauf des Ärbeeribuebs, Chirsi- und Geschirrhausierers Peter Binz»
ediert.
UMSTRUKTURIERUNGEN
Während bei Binz der warme Blick der eigenen Erfahrung und des eigenen
Schicksals dominiert, wird das Leben von Samuel Fässler und anderen Glarner
Auswanderern mit dem kalten, distanzierten Blick der Richter, Beamten und
Politiker betrachtet. Walter Hauser stellt in seinem Buch die Schicksale
voller «Bitterkeit und Tränen» in ein weites gesellschaftliches Umfeld,
erzählt von wirtschaftlichem Wandel, von «erblicher Armut» und
zynisch-arrogantem Reichtum, von Hungersnöten, Spekulation und Korruption
in einer der industrialisiertesten Regionen Europas.
Die drei Fässler-Kinder wachsen in Ställen und Höhlen auf und müssen ihren
Lebensunterhalt weitgehend selbständig bestreiten. Den Eltern, die seit über
20 Jahren ein Paar sind, wird die Heirat ebenso verweigert wie das
Zusammenleben in der gleichen Gemeinde. Die Kluft zwischen Armen und
Reichen, Beherrschten und Beherrschenden ist riesengross. Der Ausübung der
Macht wird im Landsgemeindekanton Glarus ein fadenscheiniges
Demokratiemäntelchen umgehängt. Abhängigkeiten und Angst vor Vergeltung,
aber auch offene Manipulation bestimmen das Wahl- und Abstimmungsverhalten.
Ein Drittel der Bevölkerung ist politisch ohnehin rechtlos. Wer als Kind
etwa wegen eines Obstdiebstahls verurteilt wird, bleibt das ganze Leben ohne
bürgerliche Rechte.
SOLIDARITÄT
Wirtschaftliche Umstrukturierungen fordern ihre Opfer. Aber nicht nur in
Zeiten der Krise herrscht Not, sondern auch in Phasen des Aufschwungs und
der fetten Gewinne. Grosse Teile der Bevölkerung haben keinen Anteil am
wirtschaftlichen Erfolg, sondern müssen ums Überleben kämpfen. Die
Gemeinden sehen in der Auswanderung die willkommene Möglichkeit, Arme und
andere unerwünschte Elemente loszuwerden.
Peter Binz hingegen wächst in einer Region auf, die von der
Industrialisierung kaum erfasst ist, noch dominieren die Land- und auf den
Jurahöhen die Alpwirtschaft. Seine Mutter ernährt die zwei Kinder mit
Hausieren: Ziegenkäse, Eier, Dörrobst und Geschirr kauft und verkauft sie
auf den Bauernhöfen des Juras. Solange die Kinder klein sind, bleiben sie
oft tagelang allein zu Hause, später tragen auch sie Geschirr oder sammeln
Beeren, um sie auf den Märkten in Solothurn oder anderswo wieder zu
verkaufen. Schon als Schuljunge übernimmt Peter Binz viel Verantwortung,
kauft im Baselbiet selbständig Kirschen und Schnaps zusammen, erledigt
Bestellungen von Kunden, macht seine eigenen kleinen Geschäfte. Nach der
Schule beginnen für ihn die Wanderjahre. Rast- und ruhelos durchwandert er
die Schweiz und Frankreich, arbeitet als Karrenschieber in der Erzgrube,
Fuhrmann, Gepäckträger, Maurer, Knecht und schliesslich vor allem als
Müller. Nach acht Jahren Wanderschaft kehrt er nach Welschenrohr zurück und
heiratet.
Binz sieht auf seinen Wanderungen den Aufschwung der Industrie. Er steht
ihr ebenso misstrauisch und ablehnend gegenüber wie den «Fabriklern».
«Uhreschlürbene» nennt er die in seinen Augen unseriösen Uhrmacher,
«Fabriggemöntscher» die Arbeiterinnen, gut zum Tanzen und Trinken, aber
unsittlich und liederlich. Seine Welt ist die des Handwerks und der
Landwirtschaft, sein Ideal ist das Sennenleben, das er in seiner Jugend auf
einer kleinen Sennerei am Passwang kennengelernt hat. Die Beschreibung der
sozialen Beziehungen ergibt ein anderes Bild als das von Hauser im
industrialisierten Glarus gezeichnete. Die Solidarität ist grösser, ein
dichtes Netz von Verbindungen und informellen Abmachungen hilft den vielen
Fahrenden, wandernden Handwerkern, Krämern und Bettlern. Nicht
Nächstenliebe ist Antrieb dieser Solidarität, sondern das Wissen, dass nur
so das Überleben gesichert werden kann. Binz bemerkt, dass dieses Netz im
Laufe der Zeit immer schlechter funktioniert und langsam zerfällt. Auch die
Haltung der Behörden wird härter und unduldsamer.
DRAKONISCHE STRAFEN
Samuel Fässler wird 1844 elfjährig festgenommen, mit Rutenstreichen
gezüchtigt, an die Schandsäule gebunden und zu drei Jahren Zuchthaus
verurteilt, abzusitzen in der für Schwerverbrecher reservierten Anstalt
St. Jakob in St. Gallen. Seine Vergehen: Diebstahl von Obst und einigen
anderen Gebrauchsgegenständen. Fässler ist in den Augen des
Gefängnisdirektors ein zwar hochbegabter, aber ungehorsamer und «böser
Bube», der immer wieder mit Arrest und Schlägen bestraft wird. Aus dem
Zuchthaus entlassen, wird der Dreizehnjährige sofort wieder verhaftet und
vom gleichen Glarner Richter, Doktor Johannes Trümpy, zum zweitenmal für
die gleichen Taten verurteilt, für die er bereits inhaftiert gewesen ist.
Vier Jahre St. Jakob lautet das Urteil diesmal. Die Strafen gegen Arme sind
nicht nur im Falle von Samuel Fässler drakonisch, Reiche haben wenig zu
befürchten. Der Unternehmer Heinrich Kunz etwa wird wegen Kinderausbeutung
1854 vom Glarner Polizeigericht zu einer symbolischen Busse von 40 Kronen
verurteilt. Als Samuel Fässlers zweite Strafzeit 1851 abläuft, befürchten
die Glarner Behörden, er könnte das Haus von Gerichtspräsident Trümpy
anzünden. Fässler wird deshalb einem Auswanderungsagenten übergeben und in
ein Schiff nach New York gesetzt.
Während die Akten ein relativ eindimensionales Bild Fässlers zeigen, wird
in der Eigenbeschreibung von Peter Binz eine schillernde und
widersprüchliche Person sichtbar. Binz bieten sich trotz Pech und Unglück
verschiedene Möglichkeiten, Fuss zu fassen und ein Leben unter relativ
gesicherten Umständen zu führen. Mehrere Arbeitgeber sind ihm wohlgesinnt,
wollen ihn fördern, ihm Hof oder Betrieb übergeben. Doch immer lehnt Binz
ab. Unruhe, Verfolgungs- und Verlassenheitsängste treiben ihn seit seiner
Kindheit immer weiter. Scheu, angsterfüllt und gequält sei er, schreibt
später der psychiatrische Gutachter und diagnostiziert eine «Psychose» und
«chronische, originäre Verrücktheit».
Motiviert sind die Entscheidungen von Binz mehrmals durch seine schwierige
Beziehung zu Frauen. Er trauert lange einer kurzen Jugendliebe nach, die
durch den frühen Tod der Geliebten endet. Der verehrten Mutter und der toten
Geliebten stehen hinterhältige oder haltlose Weibsbilder und die besonders
verachteten gebildeten «Blaustrümpfe, Pianotyranninnen, Professorinnen,
Gelehrtinnen» gegenüber. Mit seiner Frau, «einem Drachen in Weibsgestalt»,
hat er neun Kinder, bei einigen bestreitet er allerdings die Vaterschaft.
AUSGRENZUNG UND AUSBEUTUNG
Binz' Autobiographie ist eine reiche volkskundliche und
kulturgeschichtliche Fundgrube. Detailliert schildert er den Alltag der
Armen, Vaganten, Krämer und Heimatlosen, beschreibt Spiele und Feste,
Kleider und Wohnungen, Not und Esssitten, Religion und Aberglauben. Binz
schreibt teils in einem von vielen Mundartausdrücken durchsetzten
Hochdeutsch, teils im Dialekt. Seine Sprache ist unverbraucht und frisch,
überraschende Wortschöpfungen und vor allem spritzige Dialekt-Dialoge
zeigen einen talentierten Erzähler.
Walter Hauser erzählt das Leben von Samuel Fässler und seinen
Leidensgenossen in einer im positiven Sinne journalistischen, manchmal etwas
lakonischen Sprache. In knappen, puzzleartig zusammengefügten Kapiteln
beleuchtet er die vielfältigen Facetten des Lebens im Glarnerland. Hauser
sieht sein Buch als Mahnung, dass sich Probleme nicht lösen lassen, «indem
wir Menschen ausgrenzen und verstossen. Erst recht in schwieriger Zeit
braucht es eine solidarische Gesellschaft, in der auch die schwächeren
Glieder einen Platz, eine Heimat haben.» Doch das Buch erzählt eine andere
Geschichte: Die der Ausgrenzung und Ausbeutung als wesentliche
Bestandteile der Erfolgsgeschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert. Für
Gerechtigkeit sind - wenn überhaupt - höhere Mächte zuständig: Als 1861
Glarus brennt, gehört zu den wenigen Opfern Gerichtspräsident Trümpy, der
mit seiner Familie im Keller eingeschlossen ist. Trümpy hat seit 1837 als
Präsident des Kriminal- und Polizeigerichts die Strafjustiz im Tal der Linth
mit eiserner Faust beherrscht und ist von 1851 bis 1857 auch Nationalrat. Er
hat sich stets vor einem Brandanschlag der Fässler-Brüder gefürchtet. Der
eine ist seit langem tot, der andere in Amerika verschollen.
Die beiden Bücher können als vorzeitiger Beitrag zu den
Jubiläumsfeierlichkeiten von 1998 gelesen werden, ein Beitrag zur
Geschichte der modernen Schweiz aus der Sicht der Verlierer und der Opfer.
Es entsteht ein Bild, das so ganz anders ist als die Geschichte, die wir
1998 feiern werden. Und zugleich wird man immer wieder an die Debatten der
Gegenwart erinnert: Von wirtschaftlichen Strukturbereinigungen, die ihre
Opfer fordern, Wettbewerbsfähigkeit und hohen Sozialausgaben wäre heute die
Rede.
Albert Vogt (Hg.): Unstet. Lebenslauf des Ärbeeribuebs, Chirsi- und
Geschirrhausierers Peter Binz, von ihm selbst erzählt. Chronos-Verlag,
Zürich, 1995. 285 S., Fr. 42.-.
Walter Hauser: Bitterkeit und Tränen. Szenen der Auswanderung aus dem Thal
der Linth und die Ausschaffung des heimatlosen Samuel Fässler nach Amerika.
Limmat-Verlag, Zürich 1995. 161 S., Fr. 32.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung LITERATUR 07.09.1996 Nr. 208 70