Die Geschichte der Entwicklungspolitik der Nachkriegszeit ist eigentlich eine Geschichte des Scheiterns bisheriger Entwicklungskonzepte zum Abbau des Nord-Süd-Gefälles dies verdeutlicht gerade die aktuelle Asienkrise. Und nichts liegt René Holenstein ferner, als ebendiese Geschichte nachzuzeichnen. Seine Dissertation beginnt mit dem Satz: «Wissenschaft und entwicklungspolitische Praxis miteinander zu verbinden, das war schon immer eines meiner wichtigsten Anliegen.» Resignation ist seine Sache nicht. Ganz im Gegenteil hat sein jahrelanger persönlicher wie beruflicher Einsatz in entwicklungspolitischen Organisationen Niederschlag gefunden in der engagierten Perspektive, aus der heraus das Buch geschrieben ist.
Im Zentrum steht der Begriff der Solidarität, der für den Autor «grundsätzlich alle Manifestationen und Handlungen mit einschliesst, welche die wechselseitige Angewiesenheit der Menschen innerhalb der (Welt-)Gemeinschaft zum Ausdruck bringen». Dabei gelingt es ihm, ein facettenreiches Kaleidoskop dieses Konzepts herauszuarbeiten. Auf der einen Ebene verfolgt er die historische Veränderung des Solidaritätsverständnisses seit dem Zweiten Weltkrieg. Auf einer zweiten Ebene untersucht er die Bedeutung von Solidarität für staatliche und kirchliche Entwicklungsorganisationen sowie für die entwicklungspolitischen Bewegungen aus dem Umfeld der Neuen Linken seit dem Ende der 60er Jahre. Mit der Fokussierung auf Motive und Ideale von im Entwicklungsbereich engagierten VordenkerInnen, OrganisationsleiterInnen und praktisch in Entwicklungsländern Tätigen schliesslich schafft René Holenstein auch eine ganz konkrete, persönliche Anbindung von Solidaritätsvorstellungen.
Inhaltlich ist das Buch weitgehend chronologisch aufgebaut und beginnt mit einem längeren Teil zur Formierung der Dritten Welt in den 50er Jahren, in welchem die im Algerienkrieg ruhenden Wurzeln der Solidaritätsbewegung in der Schweiz freigelegt werden. Gerade am Beispiel Algerien wird die Paradoxie des zeitgenössisch absolut dominanten Feindbildes Kommunismus deutlich: Hatte die Brille des Antikommunismus eine tragische Kurzsichtigkeit in der offiziellen wie öffentlichen Wahrnehmung des Konflikts zur Folge, muss sie gleichzeitig als eigentlicher Motor für ein Engagement der Schweiz in Entwicklungsländern gelten.
Die frühe staatliche Entwicklungshilfe seit Beginn der 60er Jahre vom Autor auf die griffige Konsensformel «Solidarität im Rahmen der Neutralität» gebracht ist Thema des zweiten Teils. Überzeugend wird vor allem im Kapitel zur Metaphorik von Entwicklungshilfe und Solidarität die These vertreten, dass mit einer Mischung aus rückwärtsgewandten Aspekten («humanitäre Tradition», «Geistige Landesverteidigung») und fortschrittlichen Ideen (Weltoffenheit, weltweite soziale Gerechtigkeit) Entwicklungshilfe als gesellschaftlich identitätsstiftende Komponente konstruiert und erfolgreich promoviert worden ist. Ebenso deutlich kommt auch zum Ausdruck, wie selbstverständlich staatliche Entwicklungshilfe in den 60er Jahren mit wirtschaftlich eigennützigem Denken verknüpft gewesen ist.
Nichtstaatliche, das heisst in erster Linie kirchliche Entwicklungsorganisationen im dritten Teil am Beispiel des Hilfswerkes der evangelischen Kirchen der Schweiz (Heks) thematisiert begannen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre als erste mit einer selbstkritischen Hinterfragung bisheriger Entwicklungskonzepte, namentlich der Übertragung westlicher Wertmassstäbe auf die sogenannte Dritte Welt. Indem René Holenstein den Paradigmenwechsel im kirchlichen Entwicklungsdenken und die daraus resultierende Forderung nach Struktur- und Verhaltensänderung in der Ersten Welt verfolgt, arbeitet er auch deutlich Probleme und Grenzen der politischen Betätigungsmöglichkeit kirchlicher Entwicklungsorganisationen heraus.
Ein spezielles Kapitel ist anschliessend der Vietnam-Solidaritätsbewegung und dem Aufbruch der jungen Generation von 1968 gewidmet. Diese wertet der Autor als «Initialzündung» für längerfristige Lernprozesse, zu denen etwa ein stark steigendes «Dritte-Welt»-Bewusstsein gehört. Den sich abzeichnenden gesellschaftlichen Wandel versucht er im letzten Kapitel anhand der zahlreichen entwicklungspolitischen Aktionsgruppen zu verdeutlichen, welche sich 1972 zur Schweizerischen Arbeitsgruppe für Entwicklungspolitik (Safep) zusammenschlossen.
Gerade aufgrund der zentralen Rolle, die der Autor diesen neuen sozialen Bewegungen für die Veränderung des öffentlichen Bewusstseins und in geringerem Masse auch für eine Öffnung der Schweizer Aussenpolitik seit den 70er Jahren attestiert, ist es schade, dass er ihnen in seinem Buch nur wenig Raum zumisst. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Erklärung von Bern Einblick gestattet lediglich das Gespräch mit der langjährigen Fachsekretärin Anne-Marie Holenstein wäre insofern besonders wünschenswert gewesen, als der Autor ihren Bericht «Entwicklungsland Welt Entwicklungsland Schweiz» als eigentliche Zäsur in bezug auf das übergeordnete Entwicklungsdenken in der Schweiz wertet. Insgesamt betrachtet gelingt es René Holenstein, ein sehr komplexes Gebiet der jüngsten Schweizer (und Welt-)Geschichte mittels einer durchweg geglückten Verbindung von Allgemeinem und Besonderem übersichtlich, klar und inhaltlich überzeugend darzustellen. Mit einem Blick für übergeordnete Entwicklungslinien und -zusammenhänge stellt er zu Beginn der grösseren Kapitel den jeweiligen Diskussionszusammenhang im internationalen Kontext sowie die Grundzüge der innenpolitisch-gesellschaftlichen Entwicklung her. Besonders wertvoll sind die vertieften Einblicke, die man durch die zahlreich eingestreuten Einschätzungen und Kommentare der entwicklungspolitisch engagierten ZeitgenossInnen gewinnt. Dies gilt in noch verstärktem Masse für die jeden grösseren Abschnitt abschliessenden Gesprächsauszüge mit Entwicklungsfachleuten, welche mit ihren persönlich gefärbten Schilderungen von Erfahrungen und Erkenntnissen René Holensteins Argumentation gleichsam den Charakter einer offiziellen Legitimation erteilen.
Und genau darin manifestiert sich auch eines der Hauptprobleme dieser Dissertation. Es fehlt nämlich jede quellenkritische Auseinandersetzung mit den Aussagen der porträtierten und zitierten ZeitzeugInnen. Dies ist problematisch, da es sich bei Oral History um eine schwierige und fallstrickreiche Methodik handelt, deren Resultate vorsichtig zu kommentieren, interpretieren und relativieren wären. Zu bedauern ist auch, dass der Autor keine Diskussion des Forschungsstandes im Bereich von Entwicklungsfragen und -problemen unternimmt, etwa in bezug auf theoretische Überlegungen und Konzepte zum Nord-Süd-Konflikt. Aus wissenschaftlicher Perspektive kann daher ein gewisses theoretisches Defizit der Arbeit festgestellt werden. Zwar werden Aspekte der Modernisierungstheorie wie auch Konzepte von Tiersmondismus oder Befreiungstheologie angesprochen. Im Fall der Dependenztheorie, welche gerade für die entwicklungspolitischen Solidaritätsgruppen der frühen 70er Jahre von zentraler Bedeutung war, fehlt allerdings eine Analyse. Es drängt sich die Frage auf, ob der Autor mit Blick auf das aus heutiger Sicht offensichtliche Versagen aller grossen entwicklungspolitischen Theorien in seiner historischen Dissertation nicht «das Kind mit dem Bade ausgeschüttet» hat.
Eine Erklärung für diese wissenschaftlichen Leerstellen scheint mir in René Holensteins überzeugendem Bemühen um Einfachheit und Klarheit zu liegen. An jedes neue Thema wird mit einleitenden Bemerkungen zu interessanten Fragestellungen und Problembereichen herangeführt, nach längeren Diskussionen wird der rote Faden in zusammenfassenden Kurzsynthesen wieder aufgegriffen und weitergesponnen. Die extrem hohe LeserInnenfreundlichkeit resultiert nicht zuletzt aus der einfach, sachlich und präzis gehaltenen Sprache des Autors. Dies macht die vorliegende Dissertation gerade auch für ein breiteres, nichtakademisches Publikum zur ebenso angenehmen wie anregenden Lektüre.
Franziska Meister (Zürich)
traverse Zeitschrift für Geschichte Revue d'histoire 1998 / 02