Schweizer Geschichte in Zahlen
Monumentale historische Statistik
Die papierene Datenbank, die in dem unvermeidlicherweise alles andere als
handlichen Handbuch «Historische Statistik der Schweiz» versammelt worden
ist, hat eine doppelte Funktion: Einerseits soll sie vorliegende
Information bezifferbarer Art leichter und schneller zugänglich machen;
andererseits soll sie aber auch Anregung zur Auseinandersetzung mit
Quantifizierungsversuchen und mit der Frage der Quantifizierbarkeit
überhaupt sein. In beidem ist sie vielleicht eine Spätfrucht des Aufbruchs
der amerikanischen «Kliometrik» und der französischen Annales- Schule vor
bald drei Jahrzehnten.
Ein messendes Land
Die Dienstleistungsfunktion der Datenvermittlung wird erbracht einerseits
durch den kritischen Zusammenzug bereits bestehender Statistiken (zum
Beispiel aus den Jahrbüchern und aus der Zeitschrift für schweizerische
Statistik) und andererseits durch die Gewinnung neuer Daten aus
Primärquellen (zum Beispiel zur Frage der Branchenwertschöpfung). Zur
Problematik des Quantifizierens bemerkt Hansjörg Siegenthaler in der
Einleitung, der Enthusiasmus der ersten Stunden sei verflogen, an seine
Stelle sei ein kritischerer und subtilerer Umgang mit den Problemen
getreten. Quantifizierungen seien keine Ausweise besonderer Verlässlichkeit
und in einigen Fällen nicht mehr als hypothetische Konstrukte; Versuche,
den Datenbeständen Antworten zu entlocken, die sonst offenbleiben müssten.
Der gängigen Meinung, dass die Statistik in der Schweiz rückständig sei und
wegen schlechter Voraussetzungen hinter anderen Statistiken zurückbleiben
werde, wird entschieden widersprochen. Die lange Zeit geringe
Bürokratisierung habe zwar zu Lücken und Schwächen in der amtlichen
Statistik geführt. Die Arbeiten für diesen Band hätten aber insbesondere
bezüglich der Primärquellen einen eigentlichen embarras de richesses
gezeigt. Die Schweiz sei wie andere moderne Gesellschaften seit langem auf
Zahlen und Zählungen aller Art eingeschworen und in ihren Entscheidungen an
Quantifizierungen orientiert gewesen.
Von A bis Z
Erfasst werden die Vorgänge etwa seit 1800; die Zeiten davor werden
weitgehend ausgeklammert. Die ein ganzes Alphabet in Anspruch nehmende
Einteilung der Materie in 26 Bereiche folgt, wenn man von den neuerdings
eher beachteten Umweltfragen absieht, den traditionellen Kategorien und
gibt neben den demographischen den wirtschaftlichen Aspekten breitesten
Raum. Die Angaben zum Kapitel Verkehr und Nachrichtenübermittlung
beschränken sich leider auf den Aspekt des Mengenwachstums und geben keine
Auskunft über die in diesem Fall wichtigen Destinationskategorien. Die im
22. Kapitel zusammengefasste Sozialstatistik enthält aufschlussreiche
Zahlenreihen zur Flüchtlingspolitik (beispielsweise über Beruf und kantonale
Niederlassung der Ungarnflüchtlinge aus dem Jahr 1957), zur Auslandhife
seit 1945 (beispielsweise über die Schweizer Spende für das europäische
Ausland in den Jahren 1945 bis 1948 nach Beträgen, Güterkategorien und
Destinationen) und zu den Arbeitskämpfen (deren mittlere Phase von 1906 bis
1930 als die mit Abstand konfliktreichste erscheint). Im 24. Kapitel, in der
Politischen Statistik, findet man neben den Angaben zu den Wahlen und
Abstimmungen auch Tabellen zu den Bundesräten, zu den diversen Stufen der
Einführung des Frauenstimmrechts, zu den Altersklassen und Bildungsniveaus
der Mitglieder der Bundesversammlung. Das 25. Kapitel erfasst und
vermittelt unter dem Titel «Kultur und Medien» Daten zum Bibliothekswesen,
Buchhandel und Pressewesen, zu Kino, Theater und Konzerten, zu
Ausstellungen, zoologischen Gärten und - zuletzt - zur Radio-Hitparade der
Jahre 1968 bis 1990. Das letzte, 26. Kapitel ist dem Bildungswesen aller
Stufen gewidmet.
Jeder Bereich wird eingeleitet durch spezifische Quellen- und
Literaturverzeichnisse sowie mit dreisprachigen Kommentaren zum eigentlichen
Tabellenteil (wobei die dritte Sprache Englisch ist). In der Einleitung
vermisst man die in den anderen Teilen vermittelten Literaturangaben, die
über die Publikationen zur Geschichte der schweizerischen Statistik Auskunft
gäben. Mit einem Hinweis auf die Themennummer der Schweizerischen
Zeitschrift für Geschichte 45, 1995/1) sei dieser Mangel etwas ausgeglichen.
Staatlicher Raster
Die Statistiken beziehen sich zum grössten Teil auf die Ebene des Bundes. Da
und dort werden auch die Kategorien «Kanton» und «Stadt» berücksichtigt.
Auf die regionale Kategorie konnte man nicht eintreten, weil die Zahlen den
politischen und nicht den sozioökonomischen Raumeinheiten entsprechen.
Besonders präsent ist die Stadt Zürich. Die privilegierte Berücksichtigung
des Flughafens Kloten dürfte materiell gerechtfertigt sein. Hingegen könnte
befremden, dass im Bereich der Theater, Konzerte und Ausstellungen nur den
stadtzürcherischen Aktivitäten statistische Existenz zugebilligt wird. Im
Falle der Zoologischen Gärten erscheint immerhin auch die baslerische
Einrichtung. Die Vorzugsstellung der Limmatmetropole wird u. a. mit der
besonders guten Quellenlage und Forschungssituation einleuchtend
gerechtfertigt. Sie ist zugleich ein Beleg für den bekannten sich selber
verstärkenden Kumulations- und Konzentrationseffekt.
Zur Konzentration auf den nationalen Rahmen: Siegenthaler verweist,
ebenfalls nachvollziehbar, auf die Tatsache, dass sich ein Grossteil der
international vergleichenden Geschichtsschreibung auf den Nationalstaat als
massgebliche statistische Einheit bezieht und dass weiterhin die wichtigsten
Entscheidungen über die institutionellen Bedingungen allen individuellen
Handelns weiterhin innerhalb der Grenzen des Nationalstaates fallen. - Im
übrigen versteht sich von selbst, dass man diesem wertvollen Werk eine
grosse Verbreitung, einen festen Platz in der Gesellschaft sowie
regelmässig neue Auflagen und - dem Wunsch auch der Herausgeber entsprechend
- eine weitere Perfektionierung wünscht.
Georg Kreis
Historische Statistik der Schweiz. Unter der Leitung von Hansjörg
Siegenthaler, hrsg. von Heiner Ritzmann-Blickenstorfer. Chronos-Verlag,
Zürich 1996. 1221 S. Fr. 198.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung INLAND 21.06.1997 Nr. 141 17
«Das informativste Buch seit der Erfindung der Bibel.»
Cash
«Ein im vollsten Sinn des Wortes gewichtiges Werk: rund fünf Kilo schwer und unentbehrlich für Historiker, Publizisten, Schulen oder Bibliotheken. Das Buch ist ein hierzulande ebenso neuartiges wie umfassendes Grundlagenwerk.»
Neue Luzerner Zeitung
«Statistische Daten sind stumme Zeugen, die direkt weder Erklärungen liefern noch Zusammenhänge erläutern. […] Dazu gehören auch allerlei makaber und skurril anmutende Datenreihen, wie etwa jene über Selbstmord, Unfälle und Mord. […] Bei diesem Werk handelt es sich um nichts weniger als einen grossen Wurf.»
Die Weltwoche
«Ein umfassendes Werk, das nicht so leicht veraltet und auch für Handels- und Geographielehrer und -lehrerinnen nützlich ist. Es gehört darum in die Bibliothek jeder Mittelschule.»
Basler Schulblatt