Wechselhafte Geschichte
Günther Furrers neues Buch «Frydek-Zürich, hin und zurück»
Günther Furrer, der bekannte Zürcher Sportjournalist, hat ein neues Buch
geschrieben. Nicht über Fussball diesmal, sondern über die Launen der
Geschichte: «Frydek-Zürich, hin und zurück». Die Auslandschweizerfamilie
Furrer hat sie in diesem Jahrhundert in reichem Masse erfahren.
Ein Jahrhundert Geschichte, erzählt aus besonderen Blickwinkeln - das ist
die Geschichte zweier Familien, der Furrers und der Nowaks, die Geschichte
einer Strasse im heutigen Frydek, die Günther Furrer in seinem Buch
«Frydek-Zürich, hin und zurück» erzählt.
Furrers Grossvater Gottlieb, ein in Manchester geschulter Textilingenieur
aus dem zürcherischen Zwillikon, hatte sich 1908, nach einer langen
Berufskarriere in den Zentren der aufstrebenden Textilindustrie der
Habsburgermonarchie, in Friedek niedergelassen, wo er als Direktor und
Teilhaber in ein grosses Spinnereiunternehmen eintrat. Die Provinzstadt
Friedek gehörte bis nach dem Ersten Weltkrieg zu Österreich-Schlesien. Die
Nachbarstadt Místek, am andern Flussufer der Ostravice, liegt schon in
Mähren. Dort sprachen die Menschen überwiegend Tschechisch, während man in
Friedeck Deutsch sprach. An beiden Orten lebten aber auch viele Juden und
Polen, was dem Flecken an der Strasse nach Krakau und Warschau das für die
k. u. k. Monarchie so typische Gepräge gab. Noch unter den Habsburgern
kreuzten sich in Friedek die Wege der zugereisten Familie Furrer mit jenen
der alteingesessenen, deutschstämmigen Handels- und Industriellenfamilie
Nowak. Aus den anfänglich beruflichen Kontakten wuchsen 1921 familiäre
Bande, als Günther Furrers Vater Otto eine Tochter der Nowaks ehelichte. Ein
Jahr später kam Günther zur Welt. Diese hatte sich in der Zwischenzeit
beträchtlich verändert. Nach dem Zusammenbruch der Doppelmonarchie fanden
sich die Menschen in Friedek fast über Nacht in einem neuen Staat wieder.
Aus Friedek wurde Frydek, und tschechische Nationalisten besetzten die
Schlüsselstellungen in der jungen Republik Tschecho-Slowakei.
Die wechselhafte Geschichte fand auch in der Umbenennung der Hauptstrasse
von Frydek, der eigentlichen Lebensader der kleinen Stadt, ihren Ausdruck:
Die Kaiser-Franz-Joseph-Strasse wurde zur Wilsonova trida. Sie sollte ihren
Namen später noch sechs weitere Male ändern: 1928, nach einem Blitzbesuch
des greisen Staatspräsidenten, in Trida T. G. Masaryka, 1939 in Adolf-
Hitler-Strasse, 1945 in Lenin-Strasse, 1948 in Klement-Gottwald-Strasse,
1953 in Rote Strasse, 1989 wiederum in Trida T. G. Masaryka.
Was sich hinter diesen nackten Daten an menschlicher Erfahrung verbirgt,
Freude und Hoffnung, noch mehr aber Leid und Not, das schildert der Autor am
Beispiel der beiden Familien Furrer und Nowak kenntnisreich und spannend.
Günther Furrer verlebte in der jungen Demokratie Tschecho-Slowakei frohe
Kinderjahre - bis zum Einbruch der grossen Weltwirtschaftskrise; sie
brachte seinem Vater den Ruin seiner Import-Export-Firma. 1930 übersiedelten
seine Eltern mit ihm nach Zürich, wo ihnen ein mühevoller Neuanfang glückte,
der mit der Wahl des Vaters zum städtischen Beamten gekrönt wurde. Aus
Günther Furrer, wegen seiner Unkenntnis des Schweizerdeutschen von den
Schulkameraden anfänglich als «Sauschwab» beschimpft, wurde alsbald ein
waschechter Züribueb, der als Junior des FC Zürich seine bereits in Frydek
entbrannte Obsession für den Fussball mit Verve auslebte.
1936 kehrte die Familie besuchsweise noch einmal nach Frydek zurück. Die
Vorboten des grossen Weltgewitters waren unverkennbar. Günther suchte
vergeblich nach seinen jüdischen Spielkameraden; ihre Familien waren, nach
dem Tod des weisen Staatsgründers Masaryk Böses ahnend, in die Vereinigten
Staaten und nach England ausgewandert. Für die Familien Furrer und Nowak
wurde die Visite zum Abschiedsbesuch für immer. Den Zurückgebliebenen
widerfuhr all das Schlimme, das die Nazi-Okkupation und der Krieg und die
nachfolgende Befreiung durch die Soldaten der Roten Armee den Menschen
brachte. Die Überlebenden der Familie Nowak wurden nach dem Krieg Opfer der
erbarmungslosen Vertreibungspolitik unter Präsident Benesch. Grossmutter
Furrer - der Patriarch Gottfried war 1943 77jährig an Herzschwäche
gestorben - überstand nur dank einem Schutzbrief der Schweizer Gesandtschaft
körperlich unversehrt. Sie konnte später, zusammen mit einer Tante,
repatriiert werden. 1943 hatte es Günther Furrer nicht vermocht, sie zu
diesem Schritt zu bewegen - er war mit Billigung des Armeekommandos unter
abenteuerlichen Wegen zur Beerdigung seines Grossvaters gefahren.
Erst 1966 kehrte Furrer, als Sportjournalist längst arriviert, an die Stätte
seiner frühen Kindheitsjahre zurück. Die Reise wurde ihm zur
deprimierenden Erfahrung angesichts des Zerfalls, der ihm auf Schritt und
Tritt begegnete. Während des Prager Frühlings bereiste er das Land im
Auftrag der Illustrierten «Woche». Nach der Niederwalzung der
Reformbewegung bekam er für etliche Jahre kein Einreisevisum mehr. Die
(Fussball-)Tore öffneten sich für ihn erst wieder, als er mit der
tschechischen Fussballegende Václav Jezek Freundschaft geschlossen hatte: an
der Europameisterschaft 1976 in - Sarajewo.
Heinz Moll
Günther Furrer: Frydek-Zürich, hin und zurück. Die Geschichte zweier
Familien - Die Geschichte einer Strasse. Chronos-Verlag, Zürich 1997.
168 S., ill., Fr. 38.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung KULTUR 16.09.1997 Nr. 214 54