Schweizer Jungzionisten als Helfer Verfolgter
Erinnerungen an Hilfs- und Rettungsaktionen 1939-1946
Theodor Herzls Idee eines auf dem Boden Palästinas zu gründenden
zionistischen Staates, in dem das jüdische Volk eine Heimat finden sollte,
fand vor allem bei der jüngeren Generation in Osteuropa engagierte Anhänger.
Es entstanden zahlreiche Organisationen. Führend unter ihnen war die 1913 in
Galizien gegründete Bewegung «Haschomer Hazair» (Der junge Wächter). Nach
dem Ersten Weltkrieg entwickelte sie sich zu einer freidenkerischen
sozialistischen Gruppe, die im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina
eine Reihe von Kibbuzim aufbaute und auch in Westeuropa und Amerika eine
relativ zahlreiche Anhängerschaft hatte.
Aktivitäten von «Haschomer Hazair»
Auch in der Schweiz war «Haschomer Hazair» aktiv. Einer ihrer Angehörigen,
der 1920 in Basel geborene Heini Bornstein, hat in seinen Erinnerungen die
Jahre von 1939 bis 1946 wieder aufleben lassen. Bornstein, der 1947 nach
Palästina auswanderte und heute in Israel lebt, war damals Mitarbeiter einer
jüdischen Organisation in der Schweiz. Von hier aus erhielt er einen
erschütternden Einblick in die schrecklichen Geschehnisse, welche der von
Hitler entfesselte Krieg über das jüdische Volk brachte. Bornstein stammte
aus einer zionistischen Familie, die aus Polen in die Schweiz eingewandert
war. Schon vor dem Krieg hatte er sich aktiv in der zionistischen
Jugendbewegung betätigt und dabei wichtige Kontakte mit den Juden vieler
europäischer Länder angeknüpft. Nach Rekrutenschule und Militärdienst ging
er (im Hinblick auf eine Zukunft im Heiligen Land) zur Ausbildung in eine
Schule für Landwirte in Liestal. Im Spätsommer 1942 war es klar geworden,
dass Hitlers wiederholt ausgesprochene Drohung, er werde die Juden
ausrotten, nicht eine leere Floskel gewesen war. Seit 1942 fand Bornstein
seine neue quasi vollamtliche Aufgabe in zahlreichen Hilfs- und
Rettungsaktionen für die in ihrem Leben bedrohten Juden. Die Zentrale befand
sich in Basel, wurde aber später nach Genf verlegt.
Zersplitterung der Organisationen
Genf wurde gewählt, weil es als Sitz des Völkerbundes und des
Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) über zahlreiche
Verbindungen zu Flüchtlingsorganisationen und als Platz für die Hilfe an die
Verfolgten über eine Art Infrastruktur verfügte. Was Bornstein in Genf
antraf, war ernüchternd. Neben seiner eigenen Vertretung, die «Weltzentrale
des Hechaluz» genannt wurde, waren in Genf zahlreiche andere Organisationen
in der gleichen Richtung tätig. Da gab es die «Jewish Agency», eine Art
politischer Vertretung beim Völkerbund. Daneben hatte sich 1936 der «Jewish
World Congress» in Genf niedergelassen, dessen Rechtsberater Professor
Guggenheim und dessen Leiter Gerhart Riegner war. Auch das Palästina-Amt,
das die Zertifikate zur Ausstellung für eine Einwanderung zu verteilen
hatte, wurde 1938 von Basel nach Genf verlegt. Nach Kriegsausbruch kamen
weitere jüdische Organisationen nach Genf, unter anderem eine für die Hilfe
an jüdische Kinder und die dem «Hechaluz» politisch am nächsten stehende
Organisation der «Bund-Gruppe» unter Liebman Hersch, die ihren Rückhalt bei
den polnischen Emigranten in den USA hatte.
Die Zentralen der jüdischen Organisationen in Jerusalem, New York und London
beurteilten die Genfer Aktivitäten mit Skepsis. Sie unterschätzten die
Möglichkeiten, von dort aus Kontakte in die von den Deutschen besetzten
Länder und die Satellitenstaaten aufzubauen. Ein Grund dafür waren die
Spannungen unter den Juden Genfs. Aber Bornstein schreibt auch: «Bis 1942
wurde die jüdische und zionistische Führerschaft von den westlichen
Demokratien dahingehend informiert, dass ein deutscher Angriff auf die
Schweiz sehr wahrscheinlich sei.» Als Folge davon erhielten die
Vertretungen in Genf von den jüdischen Organisationen im Ausland keine
Vollmachten und auch keine materielle Unterstützung. Erst nach 1942 änderte
sich die Lage, aber noch immer musste man mit den jüdischen Vertretungen in
Genf nicht gemeinsam, sondern gesondert verhandeln.
Wie Bornstein schreibt, bemühte er sich, mit seinen Aktivitäten diesen
Mangel an Koordination zu überwinden. Er agierte wie die meisten jüdischen
Vertretungen in Genf mit einfachsten Mitteln. Das Büro der «Weltzentrale des
Hechaluz» befand sich in zwei Zimmern, die in der Pension Cornavin gemietet
worden waren. Dass Bornstein, im Gegensatz zu vielen andern jüdischen
Vertretern, Schweizer Bürger war, gab ihm bei manchen seiner
Gesprächspartner einen Bonus. Es gelang ihm das Kunststück, mit so
unterschiedlichen Instanzen wie dem Schweizerischen Israelitischen
Gemeindebund, dem IKRK und der Fremdenpolizei in einen einigermassen
korrekten, zum Teil sogar freundlichen Kontakt zu kommen, ohne dass er dabei
von seiner Grundhaltung abzuweichen hatte. Als überzeugter Zionist fand er
offene Ohren auch bei den Schweizer Behörden, welche den Aufenthalt der
Flüchtlinge im Land ohnehin nur als vorübergehend betrachteten.
Konkrete Aktionen für bedrohte Juden
Bornstein betrachtete sich als eine Brücke zu den bedrohten Juden in ganz
Europa. Er nützte die Beziehungen aus, die er vor dem Krieg in den
verschiedenen Jugendlagern angeknüpft hatte. Die meisten seiner Bekannten
waren im Krieg untergetaucht und gingen in den Widerstand. Mit ihnen hielt
er regelmässigen Kontakt. Er beauftragte Kuriere, Verbindungen
herzustellen. In verschlüsselter Sprache korrespondierte er mit jüdischen
Gemeinden in den Satellitenstaaten und in den von den Deutschen besetzten
Gebieten. Durch Hinweise auf die unterschiedlich gehandhabten Kontrollen an
den Schweizer Grenzen gelang es, Menschenleben zu retten. Daneben half er
mit, den Versand von Lebensmittelpaketen zu organisieren, später beteiligte
er sich an der Besorgung von Visa für Südamerika und an der Ausstellung
von Schutzpässen für Juden. Gegenüber den schweizerischen Behörden wurde er
nicht müde gegen die Flüchtlingspolitik des Bundesrates zu protestieren.
Die nach der Schweiz gelangten Flüchtlinge betreute er bei ihrer
Unterbringung. Er nahm Teil an der Errichtung von Jugendheimen und leistete
erzieherische Arbeit in den Lagern. Als im August 1944 Paris befreit wurde,
organisierte er den ersten Auswanderungstransport befreiter Juden nach
Palästina.
Im Loyalitätskonflikt
Die Darstellung von Heini Bornstein ist eine treffende Schilderung der
damaligen Situation der Juden unseres Landes. Sie wurden zwischen der
Loyalität zur Schweiz und der Solidarität mit dem gesamten jüdischen Volk
hin und her gerissen. Der Autor verfolgt mit spürbarem Engagement und
wachsendem Zorn die verbrecherischen Geschehnisse, die im Krieg zum
Untergang eines grossen Teils des europäischen Judentums führte. Er tat das
Menschenmögliche, um den bedrohten Menschen zu helfen. Trotz aller Bitternis
hat er sich aber keineswegs zu Emotionen hinreissen lassen. Davon zeugen
viele Stellen des Werkes. In treffenden Porträts führender jüdischer
Persönlichkeiten wie beispielsweise der Gegenpole Saly Mayer und Veit Wyler
wird die ganze Tragik der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz während der
Hitlerzeit umrissen. Und auf der anderen Seite charakterisiert Bornstein den
Fremdenpolizeichef Heinrich Rothmund, dessen antisemitische Untertöne er
bei verschiedenen Zusammentreffen feststellen musste, vornehmlich als
starren Erfüller der Gesetze, hinter die er sich in den kritischen Phasen
zu verstecken pflegte. Heini Bornsteins Buch birgt eine Fülle von Fakten.
Das Werk regt dazu an, das komplexe Thema der Flüchtlingspolitik im Zweiten
Weltkrieges immer wieder neu zu überdenken.
Alfred Cattani
Heini Bornstein: Insel Schweiz. Hilfs- und Rettungsaktionen
sozialistisch-zionistischer Jugendorganisationen 1939-1946. Chronos-Verlag,
Zürich 2000. 281 S., Fr. 38.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 07.12.2000 Nr. 286 59