Korporativ denken, genossenschaftlich organisieren, feudal handeln

Die Gemeinden und ihre Praktiken im Bergell des 14.–16. Jahrhunderts

Mit Illustrationen von Jon Bischoff

 

Gebunden
2018. 428 Seiten, 60 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-1447-2
CHF 58.00 / EUR 58.00 
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«Gemeinde» ist ein in der Schweizer Historiografie viel bemühter und emotional aufgeladener Begriff. Tatsächlich ist die Gemeinde in ihren Ursprüngen schwer fassbar, wird jedoch gerne als «Urzelle» der Schweizer Demokratie verstanden. Das vorliegende Buch setzt hier neue Akzente, indem es die Vielschichtigkeit der kommunalen Organisationsformen im ausgehenden Mittelalter untersucht. Wie funktionierten die kommunalen Kooperationsformen auf Gemeindeebene? Welche Akteure brachten sie hervor und wie nutzten und formten diese die Gemeinde? Wie wirkte sich die wirtschaftliche, soziale und politische Reglementierung auf die Gemeinde aus und welche Rolle spielte die Kirche bei der Verfestigung der kommunalen Strukturen?
Am Beispiel des Bündner Tales Bergell zeigt die Autorin, gestützt auf ein reiches Quellenkorpus, wie die schnell voranschreitende Regelung des inner- und zwischendörflichen Lebens in erster Linie nicht als Demokratisierung zu verstehen ist, sondern als Prozess, der von einer Neukonstitution hierarchischer Machtstrukturen begleitet und angetrieben wurde. Das Buch ist zudem ein wichtiger Beitrag zur bündnerischen, schweizerischen und alpinen Geschichte des 14.–16. Jahrhunderts. Geografisch heute eine Randregion, erhält das Bergell in dieser Studie einen Platz mitten im europäischen Geschehen – im Brennpunkt zwischen Konstanz und Mailand, Basel und Venedig, Hall und Genf.

hat an der Universität Zürich Geschichte und Geografie studiert und 2016 mit der Dissertation zu den Bergeller Gemeinden bei Prof. Dr. Simon Teuscher promoviert. Sie arbeitet als freischaffende Historikerin und ist Mutter von vier Kindern.


Inhalt

Einleitung: Wer später kommt, den beschenkt die Geschichte

Una premessa ed una promessa: Fragestellung und Aufbau

Paradies und Albtraum zugleich: Quellen und Quellenkritik

Transkription und Transposition: Forschungsstand                                                                                                               

 

ERSTER TEIL: Territorium, Begriffe und Bevölkerung

1. Von Kaisern, Bischöfen und Fälschern: die Vorgeschichte

2. Von den gemeinen Gemeinden: territoriale Gliederung und Begrifflichkeit

    2.1. Die Gemein(de)schaft, das Dorf

    2.2. Die gemeinen Gemeinden

    2.3. Die Gerichtsgemeinde: ein Einfall des 20. Jahrhunderts

3. Von Adligen, Freien und einem abgehackten Daumen:
    Bevölkerungsstruktur und Besitzverhältnisse

    3.1. Der vermeintliche Ursprung: die Freien

    3.2. Die Grundbesitzer und ihre Getreuen

    3.3. Die Gemeinden und die (vermögenden) Bauern

4. Grenzen: kein Innen ohne ein Aussen

    4.1. Vom Grenzsaum zur Grenzlinie

    4.2. Wirtschaftliche Orientierungsgrenzen

    4.3. Grenzen bei Herrschaftsverdichtung                                                                          

 

ZWEITER TEIL: Nutzungsräume der Gemeinden

5. Die Alpgebiete: Bindemittel lokaler Gesellschaften                 

    5.1. Die gemeinsamen Alpen

    5.2. Die Gemeindealpen

6. Die Weiden: territorialer Rahmen eines sozialen Projektes

    6.1. Weidestreitigkeiten zwischen Sotto- und Sopraporta

    6.2. Weidestreitigkeiten auf Nachbarschaftsebene

7. Der ungeteilte Wald

8. Die müssige Diskussion um Real- und Nutzungsteilung            

                                                                                                     

DRITTER TEIL: Kommunale Reglementierung des wirtschaftlichen Lebens

9. Nemo debet contra facere, dicere, oponere: die Dorfstatuten

10. Alp- und Weidereglemente für ein geordnetes Leben ausserhalb des Dorfes

    10.1. Weidezeit und Alpgebiete                  

    10.2. Die Alporganisation: Personal, Aufgaben und Arbeitsabläufe

    10.3. Besitz und Bewirtschaftung von Maiensäss und Bergwiesen

11. Wald, Weg und Steg für eine intensive Nutzung

    11.1. Der Wald in Sottoporta

    11.2. Der Kastanienwald

    11.3. Der Wald in Sopraporta

    11.4. Weg und Steg

12. Ein Pass für die Freiheit?

    12.1. Der Weglohn

    12.2. Die Fürleiti

    12.3. Der Zoll

    12.4. Die Rod- und Saumrechte                  

13. Vorschriften für ein geregeltes Zusammenleben innerhalb des Dorfes

    13.1. Wasserleitungen und Brunnen

    13.2. Das Gemeindehaus und der Dorfplatz

    13.3. Bauvorschriften

14. Kommunale Bestimmungen für mehr Vertrauen in den Markt

    14.1. Mühlen und Sägereien

    14.2. Preisvorgaben

    14.3. Das Brotmonopol: Die Pächter | Die Nutzniesser der Pacht

    14.4. Weitere Ausschreibungen und Versteigerungen

 

VIERTER TEIL: Politische Organisationsformen

15. Die Talgemeinde und ihre Richter

    15.1. Der Bischof: der erste Richter im Bergell

    15.2. Der podestà: Ein Richter für das (ganze?) Tal

    15.3. Die Kodifizierung des Rechts: der Kriminalstatutenkrimi

16.  Die Grossgemeinden und ihre Gerichte

17. Die Gemeinden und ihre politischen Emanzipationsversuche

    17.1. Wie Casaccia seine jura iuris reddendi verteidigte

    17.2. Wie Bondo und Soglio mit einandran hüsen sollen

    17.3. Wie Castasegna und Soglio perpetuo restare debbano un corpo ecommune indiviso

18. Auf dem Weg zur politischen Gemeinde

    18.1. Die politische Wirkungsmacht der kollektiven Ressourcen

    18.2. Die Gemeinde als Vehikel 

    18.3. Politische Konzepte und Vorstellungen

    18.4. Campanilismo

 

FÜNFTER TEIL: Kirche und Gemeinde

19. Die Sakrallandschaft: Talkirche, Wallfahrtskirche und Dorfkirchen         

20. Vor der Reformation ist …

    20.1. Das Bergell, ein einziges Kirchspiel

    20.2. Kirchliche Organisation auf Talebene

    20.3. Pfarreidismembrationen

    20.4. Organisation und Intervention auf Gemeindeebene

21. … nach der Reformation

    21.1. Die Ilanzer Artikel von 1524 und 1526

    21.2. Die Auswirkungen der Ilanzer Artikel auf das Bergell

    22. Diskussion und Kristallisation

    22.1. Kirche und Gemeinde – Gemeinde und Kirche

    22.2. Gemeindereformation?

 

SECHSTER TEIL: Soziale Zugehörigkeit und Ausgrenzung

23. Inklusion und Exklusion: ein Modell

24. Feu fait droit oder eher: argent fait droit?

    24.1. Bürgerrechte und Bürgerpflichten

    24.2. Einbürgerungspraxis

    24.3. Die Neubürger

    24.4. Das Bürgerrecht und die Einwohnerpflichten

25. Ein Vergleich oder ein Blick über den Tellerrand

    25.1. «lanndtlütte und hindersässen» auf dem Land

    25.2. Friedenssicherung und Sozialisation in der Stadt                 

    25.3. Parentelismus und Auswanderung im Bergell

26. Exkurs in den Dualismus–Diskurs

27. Neue Fragen und mögliche Antworten                  

    27.1. Eine Reminiszenz aus dem 19. und 20. Jahrhundert

    27.2. «facere comunancia»: das Bürgerrecht und die politische Partizipation

    27.3. Ausblick

Ein Tag im Leben von Fredericus

 

Anhang

Karten

Transkriptionen: Statuten der Grossgemeinde Sopraporta (1476) | Statuten der Grossgemeinde Sopraporta betreffend Waage (1488) | Statuten der Grossgemeinde Sopraporta (1488) | Statuten der Grossgemeinde Sopraporta (Mitte 16. Jh.) | Dorfstatuten von Bondo (1510) | Revidierte Dorfstatuten von Soglio (1557) | Dorfstatuten von Soglio (1574) | Zusatz Dorfstatuten von Bondo (1583)


Pressestimmen

«Soviel vorneweg: Wer sich für die Geschichte von lokalen / kommunalen Organisationsformen interessiert, ist mit diesem Buch bestens bedient. Prisca Roth legt eine dichte, vielschichtige und aufschlussreiche Studie zu den Bergeller Gemeinden im ausgehenden Mittelalter vor, in der sie die Kommunen als Akteurinnen in einem über das Bündner Südtal hinausreichenden institutionellen Gefüge untersucht. Die Zürcher Dissertation beruht auf umfangreichen Arbeiten in verschiedenen Archiven.»

SZG/RSH/RSS 71/2 (2021), Rahel Wunderli, Möriken

«The book includes ambitious theoretical framings as well as creative efforts to create immediacy through concrete descriptions of events, documented or imagined, that embody her empirical findings. These efforts help make Korporativ Denken, Genossenschaftlich Organisieren, Feudal Handeln a stimulating and often surprising pleasure to read. [...] In elucidating this tangled reality and its complexities in remarkable detail on a very local scale over two centuries, Prisca Roth has valuably reinforced current research trends in a stimulating and refreshingly unconventional package.»

H-Soz-Kult, 23. Juni 2021, Randolph C. Head

«In anschaulicher Weise rekonstruiert die Autorin die chronologischen Entwicklungslinien, die komplexen begrifflichen Probleme und die Vielschichtigkeit der Organisationsformen im politischen, kirchlichen und besonders wirtschaftlichen Bereich. [...] Durchweg belegen die Ausführungen eine umfassende Kenntnis der anspruchsvollen Quellen. [...] Formal hervorzuheben ist neben dem persönlich-engagierten Sprachstil das originelle und auch ästhetisch gelungene Experiment, den akademischen Text im Mittelteil um eine von Jon Bischoff in über 50 schwarz-weißen Szenen gefasste Bildergeschichte zu ergänzen. Unter dem Titel ‹Soglio, ein Tag im November des Jahres 1572› zeigt sie Fredericus Salis, einen Repräsentanten der lokalen Führungsschicht, bei seinen persönlichen und amtlichen Verrichtungen. [...] Insgesamt erlaubt das Buch faszinierende und ungewöhnlich detaillierte Einblicke in die verschiedenen Sphären und Stufen kommunaler Organisation. Es setzt neue Akzente und regt zu weiteren vergleichenden Studien an.»

Zeitschrift für Historische Forschung 2/2020, Beat Kümin

«Die Studie untersucht jenseits von staats- und rechtsphilosophischem Substantialismus ‹Nutzungsräume der Gemeinden› sowie die ‹kommunale Reglementierung des wirtschaftlichen Lebens›. [...] In seiner Mitte überrascht der Band mit einem von Jon Bischoff als Comic gestalteten Bildteil (nach S. 175), der einen Tag im Leben der fiktiven Figur ‹Fredericus S.› nachzeichnet. Obwohl erfunden, beruht der Plot auf Notariatsakten und ist als narrative Matrix auch in die Zusammenfassung des Bandes eingewoben (S. 367–375) – ein spannendes Experiment erzählerischer Verdichtung zentraler Befunde! Es folgen Ausführungen zu politischen Organisationsformen (Richter, Gerichte, Gemeinden), die das Bild eines vertrackten Institutionengerippes, verschachtelter Zuständigkeiten und in stetem Wandel begriffener Behörden zeichnen. [...] Das Buch von Prisca Roth ist inhaltlich dicht, quellengesättigt, konzeptionell wegweisend und in vielerlei Hinsicht lesenswert. Die Autorin vertieft nicht nur unser Verständnis der Bündner Geschichte. Sie vermittelt auch neue Perspektiven und inspirierende Gedanken zu abgehandelt geglaubten Forschungsfeldern wie Kommunalismus und Staatsbildung.»

Historische Zeitschrift, 311 2/2020, Daniel Schläppi

«Dank der sehr guten Quellenlage und ihrem spezifischen Forschungsansatz bietet Roth erstmals die filigranen Details, die eine umfassende Standortbestimmung zur unmittelbaren Vor- und zur Frühzeit der Republik ermöglichen. Der Titel ihres Werks bildet diese Realität sprachlich prägnant und inhaltlich perfekt ab. Man könnte ihn als ‹Roth-Formel› für die künftige Forschung zu Feudalismus/Demokratie in Bünden verwenden; denn sie liefert auch ein sehr dienliches Ordnungs- und Deutungsraster für Lokalgeschichten bis in die neueste Zeit.»

Bündner Monatsblatt 1/2020, Adolf Collenberg

«Für mich war das Buch ein Geschenk, […] weil es […] ein Panorama von Leben & Strukturen im Alpenraum sichtbar macht, die sich bis heute in der Anlage und Architektur des Bergells niederschlagen. Es macht Spass, mit so viel mehr Wissen im Kopf durch die Strassen, Weiden & Wälder zu laufen und in den historischen Häusern zu wohnen.»

Bergell_Blog, April 2020, Veronika Rall