«Gemeinde» ist ein in der Schweizer Historiografie viel bemühter und emotional aufgeladener Begriff. Tatsächlich ist die Gemeinde in ihren Ursprüngen schwer fassbar, wird jedoch gerne als «Urzelle» der Schweizer Demokratie verstanden. Das vorliegende Buch setzt hier neue Akzente, indem es die Vielschichtigkeit der kommunalen Organisationsformen im ausgehenden Mittelalter untersucht. Wie funktionierten die kommunalen Kooperationsformen auf Gemeindeebene? Welche Akteure brachten sie hervor und wie nutzten und formten diese die Gemeinde? Wie wirkte sich die wirtschaftliche, soziale und politische Reglementierung auf die Gemeinde aus und welche Rolle spielte die Kirche bei der Verfestigung der kommunalen Strukturen?
Am Beispiel des Bündner Tales Bergell zeigt die Autorin, gestützt auf ein reiches Quellenkorpus, wie die schnell voranschreitende Regelung des inner- und zwischendörflichen Lebens in erster Linie nicht als Demokratisierung zu verstehen ist, sondern als Prozess, der von einer Neukonstitution hierarchischer Machtstrukturen begleitet und angetrieben wurde. Das Buch ist zudem ein wichtiger Beitrag zur bündnerischen, schweizerischen und alpinen Geschichte des 14.–16. Jahrhunderts. Geografisch heute eine Randregion, erhält das Bergell in dieser Studie einen Platz mitten im europäischen Geschehen – im Brennpunkt zwischen Konstanz und Mailand, Basel und Venedig, Hall und Genf.
Einleitung: Wer später kommt, den beschenkt die Geschichte
Una premessa ed una promessa: Fragestellung und Aufbau
Paradies und Albtraum zugleich: Quellen und Quellenkritik
Transkription und Transposition: Forschungsstand
ERSTER TEIL: Territorium, Begriffe und Bevölkerung
1. Von Kaisern, Bischöfen und Fälschern: die Vorgeschichte
2. Von den gemeinen Gemeinden: territoriale Gliederung und Begrifflichkeit
2.1. Die Gemein(de)schaft, das Dorf
2.2. Die gemeinen Gemeinden
2.3. Die Gerichtsgemeinde: ein Einfall des 20. Jahrhunderts
3. Von Adligen, Freien und einem abgehackten Daumen:
Bevölkerungsstruktur und Besitzverhältnisse
3.1. Der vermeintliche Ursprung: die Freien
3.2. Die Grundbesitzer und ihre Getreuen
3.3. Die Gemeinden und die (vermögenden) Bauern
4. Grenzen: kein Innen ohne ein Aussen
4.1. Vom Grenzsaum zur Grenzlinie
4.2. Wirtschaftliche Orientierungsgrenzen
4.3. Grenzen bei Herrschaftsverdichtung
ZWEITER TEIL: Nutzungsräume der Gemeinden
5. Die Alpgebiete: Bindemittel lokaler Gesellschaften
5.1. Die gemeinsamen Alpen
5.2. Die Gemeindealpen
6. Die Weiden: territorialer Rahmen eines sozialen Projektes
6.1. Weidestreitigkeiten zwischen Sotto- und Sopraporta
6.2. Weidestreitigkeiten auf Nachbarschaftsebene
7. Der ungeteilte Wald
8. Die müssige Diskussion um Real- und Nutzungsteilung
DRITTER TEIL: Kommunale Reglementierung des wirtschaftlichen Lebens
9. Nemo debet contra facere, dicere, oponere: die Dorfstatuten
10. Alp- und Weidereglemente für ein geordnetes Leben ausserhalb des Dorfes
10.1. Weidezeit und Alpgebiete
10.2. Die Alporganisation: Personal, Aufgaben und Arbeitsabläufe
10.3. Besitz und Bewirtschaftung von Maiensäss und Bergwiesen
11. Wald, Weg und Steg für eine intensive Nutzung
11.1. Der Wald in Sottoporta
11.2. Der Kastanienwald
11.3. Der Wald in Sopraporta
11.4. Weg und Steg
12. Ein Pass für die Freiheit?
12.1. Der Weglohn
12.2. Die Fürleiti
12.3. Der Zoll
12.4. Die Rod- und Saumrechte
13. Vorschriften für ein geregeltes Zusammenleben innerhalb des Dorfes
13.1. Wasserleitungen und Brunnen
13.2. Das Gemeindehaus und der Dorfplatz
13.3. Bauvorschriften
14. Kommunale Bestimmungen für mehr Vertrauen in den Markt
14.1. Mühlen und Sägereien
14.2. Preisvorgaben
14.3. Das Brotmonopol: Die Pächter | Die Nutzniesser der Pacht
14.4. Weitere Ausschreibungen und Versteigerungen
VIERTER TEIL: Politische Organisationsformen
15. Die Talgemeinde und ihre Richter
15.1. Der Bischof: der erste Richter im Bergell
15.2. Der podestà: Ein Richter für das (ganze?) Tal
15.3. Die Kodifizierung des Rechts: der Kriminalstatutenkrimi
16. Die Grossgemeinden und ihre Gerichte
17. Die Gemeinden und ihre politischen Emanzipationsversuche
17.1. Wie Casaccia seine jura iuris reddendi verteidigte
17.2. Wie Bondo und Soglio mit einandran hüsen sollen
17.3. Wie Castasegna und Soglio perpetuo restare debbano un corpo ecommune indiviso
18. Auf dem Weg zur politischen Gemeinde
18.1. Die politische Wirkungsmacht der kollektiven Ressourcen
18.2. Die Gemeinde als Vehikel
18.3. Politische Konzepte und Vorstellungen
18.4. Campanilismo
FÜNFTER TEIL: Kirche und Gemeinde
19. Die Sakrallandschaft: Talkirche, Wallfahrtskirche und Dorfkirchen
20. Vor der Reformation ist …
20.1. Das Bergell, ein einziges Kirchspiel
20.2. Kirchliche Organisation auf Talebene
20.3. Pfarreidismembrationen
20.4. Organisation und Intervention auf Gemeindeebene
21. … nach der Reformation
21.1. Die Ilanzer Artikel von 1524 und 1526
21.2. Die Auswirkungen der Ilanzer Artikel auf das Bergell
22. Diskussion und Kristallisation
22.1. Kirche und Gemeinde – Gemeinde und Kirche
22.2. Gemeindereformation?
SECHSTER TEIL: Soziale Zugehörigkeit und Ausgrenzung
23. Inklusion und Exklusion: ein Modell
24. Feu fait droit oder eher: argent fait droit?
24.1. Bürgerrechte und Bürgerpflichten
24.2. Einbürgerungspraxis
24.3. Die Neubürger
24.4. Das Bürgerrecht und die Einwohnerpflichten
25. Ein Vergleich oder ein Blick über den Tellerrand
25.1. «lanndtlütte und hindersässen» auf dem Land
25.2. Friedenssicherung und Sozialisation in der Stadt
25.3. Parentelismus und Auswanderung im Bergell
26. Exkurs in den Dualismus–Diskurs
27. Neue Fragen und mögliche Antworten
27.1. Eine Reminiszenz aus dem 19. und 20. Jahrhundert
27.2. «facere comunancia»: das Bürgerrecht und die politische Partizipation
27.3. Ausblick
Ein Tag im Leben von Fredericus
Anhang
Karten
Transkriptionen: Statuten der Grossgemeinde Sopraporta (1476) | Statuten der Grossgemeinde Sopraporta betreffend Waage (1488) | Statuten der Grossgemeinde Sopraporta (1488) | Statuten der Grossgemeinde Sopraporta (Mitte 16. Jh.) | Dorfstatuten von Bondo (1510) | Revidierte Dorfstatuten von Soglio (1557) | Dorfstatuten von Soglio (1574) | Zusatz Dorfstatuten von Bondo (1583)
«Soviel vorneweg: Wer sich für die Geschichte von lokalen / kommunalen Organisationsformen interessiert, ist mit diesem Buch bestens bedient. Prisca Roth legt eine dichte, vielschichtige und aufschlussreiche Studie zu den Bergeller Gemeinden im ausgehenden Mittelalter vor, in der sie die Kommunen als Akteurinnen in einem über das Bündner Südtal hinausreichenden institutionellen Gefüge untersucht. Die Zürcher Dissertation beruht auf umfangreichen Arbeiten in verschiedenen Archiven.»
«The book includes ambitious theoretical framings as well as creative efforts to create immediacy through concrete descriptions of events, documented or imagined, that embody her empirical findings. These efforts help make Korporativ Denken, Genossenschaftlich Organisieren, Feudal Handeln a stimulating and often surprising pleasure to read. [...] In elucidating this tangled reality and its complexities in remarkable detail on a very local scale over two centuries, Prisca Roth has valuably reinforced current research trends in a stimulating and refreshingly unconventional package.»
«In anschaulicher Weise rekonstruiert die Autorin die chronologischen Entwicklungslinien, die komplexen begrifflichen Probleme und die Vielschichtigkeit der Organisationsformen im politischen, kirchlichen und besonders wirtschaftlichen Bereich. [...] Durchweg belegen die Ausführungen eine umfassende Kenntnis der anspruchsvollen Quellen. [...] Formal hervorzuheben ist neben dem persönlich-engagierten Sprachstil das originelle und auch ästhetisch gelungene Experiment, den akademischen Text im Mittelteil um eine von Jon Bischoff in über 50 schwarz-weißen Szenen gefasste Bildergeschichte zu ergänzen. Unter dem Titel ‹Soglio, ein Tag im November des Jahres 1572› zeigt sie Fredericus Salis, einen Repräsentanten der lokalen Führungsschicht, bei seinen persönlichen und amtlichen Verrichtungen. [...] Insgesamt erlaubt das Buch faszinierende und ungewöhnlich detaillierte Einblicke in die verschiedenen Sphären und Stufen kommunaler Organisation. Es setzt neue Akzente und regt zu weiteren vergleichenden Studien an.»
«Die Studie untersucht jenseits von staats- und rechtsphilosophischem Substantialismus ‹Nutzungsräume der Gemeinden› sowie die ‹kommunale Reglementierung des wirtschaftlichen Lebens›. [...] In seiner Mitte überrascht der Band mit einem von Jon Bischoff als Comic gestalteten Bildteil (nach S. 175), der einen Tag im Leben der fiktiven Figur ‹Fredericus S.› nachzeichnet. Obwohl erfunden, beruht der Plot auf Notariatsakten und ist als narrative Matrix auch in die Zusammenfassung des Bandes eingewoben (S. 367–375) – ein spannendes Experiment erzählerischer Verdichtung zentraler Befunde! Es folgen Ausführungen zu politischen Organisationsformen (Richter, Gerichte, Gemeinden), die das Bild eines vertrackten Institutionengerippes, verschachtelter Zuständigkeiten und in stetem Wandel begriffener Behörden zeichnen. [...] Das Buch von Prisca Roth ist inhaltlich dicht, quellengesättigt, konzeptionell wegweisend und in vielerlei Hinsicht lesenswert. Die Autorin vertieft nicht nur unser Verständnis der Bündner Geschichte. Sie vermittelt auch neue Perspektiven und inspirierende Gedanken zu abgehandelt geglaubten Forschungsfeldern wie Kommunalismus und Staatsbildung.»
«Dank der sehr guten Quellenlage und ihrem spezifischen Forschungsansatz bietet Roth erstmals die filigranen Details, die eine umfassende Standortbestimmung zur unmittelbaren Vor- und zur Frühzeit der Republik ermöglichen. Der Titel ihres Werks bildet diese Realität sprachlich prägnant und inhaltlich perfekt ab. Man könnte ihn als ‹Roth-Formel› für die künftige Forschung zu Feudalismus/Demokratie in Bünden verwenden; denn sie liefert auch ein sehr dienliches Ordnungs- und Deutungsraster für Lokalgeschichten bis in die neueste Zeit.»
«Für mich war das Buch ein Geschenk, […] weil es […] ein Panorama von Leben & Strukturen im Alpenraum sichtbar macht, die sich bis heute in der Anlage und Architektur des Bergells niederschlagen. Es macht Spass, mit so viel mehr Wissen im Kopf durch die Strassen, Weiden & Wälder zu laufen und in den historischen Häusern zu wohnen.»