Schon seit 1934 wurde die Meinungs- und Pressefreiheit in der Schweiz allmählich eingeschränkt, um zu Kriegsbeginn 1939 zu einer allgemeinen Medienzensur ausgeweitet zu werden. Der Zürcher Germanist Stefan Andreas Keller hat sich in seiner Dissertation mit diesem bis heute wenig behandelten Kapitel der Zeitgeschichte beschäftigt. Mittels diskurstheoretischer Verfahren analysierte Keller 4200 Dossiers über Bücher, die während des Weltkriegs beurteilt wurden. Die Methode bewährt sich: Keller kann zeigen, dass zwar manche Werke tatsächlich verboten wurden, weil die Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie abgelehnt wurde. Andererseits zeigen sich aber in nicht wenigen Gutachten, die von den «Experten» verfasst wurden, Topoi und Argumentationsmuster, die selbst ein völkisch-nationalistisches Denken verraten. Judenfeindliche Schriften konnten verboten werden, weil der radikale Rassenhass abgelehnt wurde. Umgekehrt wurden aber auch judenfreundliche Werke skeptisch betrachtet und es konnte etwa der Vorwurf erhoben werden, diese würden den Antisemitismus fördern. (190)
Nach dem Krieg erinnerte sich Herbert Lang an den unentwegten Kampf «einer Gruppe überzeugter Kämpfer […] für die geistige Unabhängigkeit unseres Landes» und seiner Bürger. (89) Der Berner Buchhändler bezog das auf sich und seine Mitarbeiter. Zu Kriegsbeginn war er Präsident des Schweizerischen Buchhändlervereins. Die traditionell engen Verbindungen zwischen Deutschschweizer und deutschen Verlagen stellten den Schweizer Buchhandel in den 1930er-Jahren vor enorme Probleme. Eine vermehrte Hinwendung zum Binnenmarkt und die Propagierung der heimischen Literaturproduktion, des sogenannten «Schweizerbuchs», waren Zeichen einer teilweisen Abkopplung vom deutschen Markt, die aber nie vollständig gelang. Innerhalb der Buchhändlerzunft war Lang ein entschiedener Wortführer einer engen Zusammenarbeit mit den Bundesbehörden und der Ausrichtung der Verbandspolitik auf die Ideen der Geistigen Landesverteidigung. Seitens der Abteilung Presse und Funkspruch (APF) des Militärs wurde ihm im September 1939 die Leitung der Sektion Buchzensur angeboten. Diese richtete sich in ihrer Arbeit nach dem sogenannten Grunderlass, in dem es bloss hiess, dass alle Äusserungen verboten seien, welche «die Behauptung der Unabhängigkeit der Schweiz gegen aussen, die Wahrung der inneren Sicherheit und die Aufrechterhaltung der Neutralität» beeinträchtigen könnten. (59) Als Sanktionen waren Beanstandung, Änderungsvorschläge, Verbot und Beschlagnahmung vorgesehen. Für die Beurteilung von Werken wurden circa 50 meist informell angeworbene Gutachter hinzugezogen. Besonders häufig waren dies Akademiker sowie Buchhändler oder Journalisten. Sie hatten im Prinzip immer die einzige Frage zu beantworten, «ob das Buch im heutigen Moment und bei der gefahrvollen Lage unseres Landes der Öffentlichkeit preisgegeben werden darf». (108)
Keller betrachtet speziell die von der Sektion Buchhandel begutachteten Bücher der vier Kategorien «Nachkriegsszenarien», «Holocaust und Flüchtlingspolitik», «Ästhetik/Kunst» und «Wissenschaft». Zur Kategorie 1 rechnet er alle Werke, die sich Gedanken zu einer Neuordnung Europas nach dem Krieg machten, wobei die Schweiz dabei implizit oder explizit immer inbegriffen war. Wurde die Neutralität dabei infrage gestellt oder gar negiert, konnte es nur eine Antwort geben: das Verbot. Die Gutachter taxierten die pazifistischen Schriften als Träumereien und konnten sich eine Neuordnung nicht ohne Grossmachtpolitik denken. So wurde den allermeisten Nachkriegskonzeptionen mit äusserster Skepsis und Ablehnung begegnet, egal von welcher Kriegsseite oder Partei sie kamen.
Was den Holocaust betrifft, so fürchteten sich die Experten lange vor der Freigabe von Werken, die davon Zeugnis ablegten oder gar die Nationalsozialisten ihrer Verbrechen anklagten. Zu einem Werk aus der Feder Thomas Manns notierte ein Gutachter: «A priori müssen wir uns auf den Standpunkt stellen, dass der Verfasser sich im Irrtum befindet, wenn er dem Oberhaupt jenes Volkes, das einen Goethe, einen Hölderlin, einen Novalis, hervorgebracht hat, Charaktereigenschaften zuspricht, die so weit entfernt sind von dem, was man sich im allgemeinen unter einem führenden Staatsmanne vorstellt.» (180) Was nicht sein durfte, konnte offenbar nicht sein. Mit der Zeit begann man die sich häufenden Berichte über die Gräueltaten für glaubhaft zu halten. Dennoch werteten die Gutachter es fast bis zum Kriegsende als inopportun, dies breit zu publizieren. Insbesondere wo sich die Berichte mit der direkten Anklage der Täter und/oder mit der Behauptung der systematischen Massenvernichtung verbanden, fielen sie dem Rotstift zum Opfer. Andererseits wurde auch nationalsozialistische Hetzpropaganda verboten, so etwa Jud Süss.
Belletristik wurde von der Zensur ebenfalls beurteilt. Dabei zeigt sich eine aufschlussreiche Analogisierung der Neutralität mit einer zeitlosen Kunst. Positiv gewertet wurde der Einsatz für allgemeinmenschliche Werte. Je stärker die Werke hingegen Bezug nahmen auf die reale Welt, desto eher sah man darin versteckte Anklagen und verurteilte das mitunter gar als «Missbrauch der künstlerischen Freiheit». (217) Sehr negativ wurden die Werke moderner Kunstrichtungen beurteilt, wobei manchmal gar der Lebensstil der Autoren mit in den Verriss einbezogen wurde. Insbesondere gegenüber Exilanten zeigt sich eine sehr feindselige Haltung. Je höher andererseits der künstlerische Wert einer Arbeit eingeschätzt wurde, desto eher wurde über gewisse politische Einflechtungen hinweg gesehen. So heisst es etwa zu einem Drama von Franz Werfel, das behandelte Thema liege zwar «im Gebiet des Unneutralen», doch der «echte Werfel» sei es wert, beachtet und besprochen zu werden. (224)
Unter Ideologieverdacht gerieten zudem viele wissenschaftliche Werke. Vor allem historische und sozialwissenschaftliche Studien standen auf dem Prüfstand. Was als offene Propaganda für den Nationalsozialismus oder den Kommunismus angesehen wurde, fand keine Gnade. Anderes wurde als «Zweckwissenschaft» sehr kritisch beurteilt, aber dennoch grösstenteils freigegeben. Als Ideal der Gutachten lässt sich wiederum die Neutralität herausarbeiten, wobei sie hier mit Nüchternheit, Unparteilichkeit und grösstmöglicher Objektivität analogisiert wird.
Keller zeigt in seiner dichten und interessanten Studie auf, dass das simple Bild der Zensur als staatlicher Repression (von oben) für das Wirken der Schweizer Buchzensur im Zweiten Weltkrieg in die Irre führt. Die Mitarbeiter der Sektion verstanden ihre Arbeit nicht als Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern vielmehr als Beitrag zu ihrer Erhaltung. Zensur wird in diesem Verständnis als kleine Beschränkung der Freiheit (des Individuums) verstanden, die aber nötig und legitim ist, um die Freiheit, Unabhängigkeit und Neutralität (des Staats) zu retten. So wurde die Zensur in der Schweiz nach dem Krieg auch praktisch gleich gerechtfertigt wie die aus heutiger Perspektive hartherzige Politik gegenüber den Hilfe suchenden Flüchtlingen.
Das traditionelle Milizsystem förderte den Einbezug der direkt Betroffenen in das System der Zensur, die häufig auch eine Selbstzensur war: Vieles wurde gar nicht erst zum Druck gebracht und nicht wenige Schriften wurden nur mit Auflagen freigegeben. Insgesamt zeigt sich, dass die «kleinen Zensoren» in ihrer Arbeit immer Deutschland als «grossen Zensor» vor Augen hatten. Dabei schöpften sie den möglichen Handlungsspielraum wohl nicht aus. Aus Angst davor, dem grossen Nachbar Munition zu liefern für eine mögliche Anprangerung der Schweiz, wurde im Zweifel eher zu viel als zu wenig zensiert. Der vom Naziregime geforderten «Gesinnungsneutralität» war die Schweiz damit viel näher als man es sich einzugestehen bereit war. Nach dem Krieg wurde von den Akteuren die politische Abgrenzung zu Deutschland betont, die sich unter anderem im Verbot nationalsozialistischer Hetzschriften äusserte. Die Parallelität der kulturellen Entwicklung zwischen der Schweiz und Deutschland wurde dagegen ausgeblendet. Diese zeigt sich weniger in den verfügten Massnahmen (Verbot, Änderungen) als vielmehr im Wortlaut der Gutachten, besonders zur modernen Literatur. Es ist Kellers Verdienst, dass er den Blick für dieses dunkle Kapitel der jüngeren Zeitgeschichte schärft.