Im Gebiet des Unneutralen
Schweizerische Buchzensur im Zweiten Weltkrieg zwischen Nationalsozialismus und Geistiger Landesverteidigung
Gebunden
2009. 348 Seiten, 12 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-0976-8
CHF 58.00 / EUR 37.50 
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5315 Schriften hat die schweizerische Buchzensur von September 1939 bis Mai 1945 begutachtet – darunter Werke von Adolf Hitler, Winston Churchill und Stalin bis hin zu Schriften von Max Frisch, Erich Fromm und Bertolt Brecht. Konkrete Kriterien für die Zensur gab es dabei nicht. Die Zensur stand im Dienst der schweizerischen Neutralitätspolitik und war Teil der «Geistigen Landesverteidigung». Gegen die totalitäre Diktatur in Berlin trat man an, die Unabhängigkeit und damit auch die Meinungsfreiheit der Schweiz zu schützen. In Wirklichkeit standen die Zensoren – stellvertretend für die Schweiz insgesamt – aber unter dem Dauerkonflikt, dem nationalsozialistischen Deutschland die Gegnerschaft zu zeigen und gleichzeitig die kulturellen Wurzeln eines grossen Teils der Schweiz nicht zu verleugnen. Deshalb zeigen die Gutachten der Buchzensur sowohl heftige Kritik an der menschenfeindlichen Politik des NS-Staates als auch Zustimmung zu Handeln und Verhalten des nördlichen Nachbarn.
Die Arbeit der Zensur entpuppt sich als ein Ort der Auseinandersetzung der Schweiz mit der sie umgebenden Welt und ganz besonders mit Deutschland, wo erprobt, erörtert und bestimmt werden konnte, was für die damalige Schweiz sag- und denkbar war und was nicht. In welchem Ausmass diese Grenzen des Sagbaren durch die kulturelle Nähe zum nationalsozialistischen Deutschland bestimmt wurden, ist erst teilweise untersucht, der Widerstandsmythos hat dies während Jahrzehnten verhindert.

Studium der Geschichte, Germanistik und Soziologie in Zürich, Berlin und Frankfurt/Oder. Seit 2005 Dozent am Historischen Seminar der Universität Zürich sowie tätig im Bereich Internettechnologie und universitäre Lehre (E-Learning).

Inhalt
Einführung: «Madame la Censure n'aime pas les bobards…»
- Im Diskurslabor der Zensur
- Die Schweiz und das nationalsozialistische Deutschland
- Zur Zensur im Zweiten Weltkrieg
- Aufbau und Methode


I. Die Schweiz im Kontext von Nationalsozialismus und Weltkrieg
- Die Schweiz in der Zwischenkriegszeit (1919–1939)
- Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg (1939–1945)
- Neutralität
- Geistige Landesverteidigung


2. Schweizerische Zensur im Zweiten Weltkrieg. Vorgeschichte, Theorie und Grundlage
- Zensurkritik und Aufklärungsphilosophie
- Zuschreibungen: Die Zensur als Mittel zur Rettung der Pressefreiheit
- Zur Problematik des Zensurbegriffs
- «New Censorship» – diskursanalytische Perspektiven
- Die schweizerische Kriegszensur: Voraussetzungen
- Die Abteilung Presse und Funkspruch 1939–1945


3. Buchzensur und organisierter Buchhandel. Korporatismus und Selbstdisziplin
- Buchzensur und Literaturlenkung im NS-Staat
- Nationale Literatur und Geistige Landesverteidigung
- Ideologische Garantien gegen staatliche Produktion
- Die Sektion Buchhandel


4. Selbstorganisation der Bürger. Die Experten der Sektion Buchhandel
- Der Experte im politischen System der Schweiz
- Die Gruppe der «Bücherexperten»
- Selbstorganisation der Eliten


5. Die Schweiz und die europäische Einigung. Nachkriegs- und Zukunftsszenarien in der Zensur
- Dei Schweiz und die europäische Idee
- Das «Neue Europa» des Nationalsozialismus und die «Erneuerung» der Schweiz
- Nachkriegsszenarien im Zeichen von Demokratie und Sozialismus
- Die Schweiz als Vorbild für ein geeintes Europa
- Der Untergang der Eidgenossenschaft


6. Zensur im Zeichen des Holocaust. Humanitäre Tradition, NS-Rassenpolitik und helvetische Bevölkerungspolitik
- Die Schweiz und der Holocaust
- Schweigende Skepsis (1939–1942)
- Die Realität des Holocaust (1943–1945)
- Neutralität versus Solidarität


7. Neutralität und Ästhetik. Kunst in der Zensur
- Literatur zwischen Avantgarde und Reaktion
- Kunst in der Zensur
- Die Fiktion im Fiktionalen


8. Neutralität und Objektivität. Die Zensur wissenschaftlicher Literatur
- Objektivität und Geistige Landesverteidigung
- Wissenschaft in der Zensur
- Die Mimikry des Neutralen


Schluss: Das gespaltene Bewusstsein
- Zur Frage des autonomen Nachvollzugs
- Neutralität und gespaltenes Bewusstsein

Pressestimmen
«Kellers Dissertation über die schweizerische Buchzensur in den Jahren 1939–1945 […] ist quellengesättigt, differenziert und gut geschrieben.» David Zimmer, Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie

«Keller hat mit seinem flüssig geschriebenen Buch, das von den von ihm zitierten und dargestellten Zensurfälle lebt, einen weiteren Meilenstein auf dem Weg der Entmytologisierung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg gesetzt.» Ansgar Diller, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

Besprechungen
Schon seit 1934 wurde die Meinungs- und Pressefreiheit in der Schweiz allmählich eingeschränkt, um zu Kriegsbeginn 1939 zu einer allgemeinen Medienzensur aus­geweitet zu werden. Der Zürcher Germanist Stefan Andreas Keller hat sich in seiner Dissertation mit diesem bis heute wenig behandelten Kapitel der Zeit­geschichte beschäftigt. Mittels diskurstheoretischer Verfahren analysierte Keller 4200 Dossiers über Bücher, die während des Weltkriegs beurteilt wurden. Die Methode bewährt sich: Keller kann zeigen, dass zwar manche Werke tatsäch­lich verboten wurden, weil die Verbrei­tung der nationalsozialistischen Ideo­logie ab­gelehnt wurde. Andererseits zeigen sich aber in nicht wenigen Gutachten, die von den «Experten» verfasst wurden, Topoi und Argumentationsmuster, die selbst ein völkisch-nationalistisches Denken verraten. Judenfeindliche Schriften konnten ver­boten werden, weil der radikale Rassenhass abgelehnt wurde. Umge­kehrt wurden aber auch judenfreundliche Werke skeptisch betrachtet und es konnte etwa der Vorwurf erhoben werden, diese würden den Antisemitismus fördern. (190) Nach dem Krieg erinnerte sich Herbert Lang an den unentwegten Kampf «einer Gruppe überzeugter Kämpfer […] für die geistige Unabhängigkeit unseres Landes» und seiner Bürger. (89) Der Berner Buchhändler bezog das auf sich und seine Mitarbeiter. Zu Kriegsbeginn war er Präsident des Schweizerischen Buchhändlervereins. Die traditionell engen Verbindungen zwischen Deutschschweizer und deutschen Verlagen stellten den Schweizer Buchhandel in den 1930er-Jahren vor enorme Probleme. Eine vermehrte Hinwendung zum Binnenmarkt und die Propagierung der heimischen Literaturproduktion, des sogenannten «Schweizerbuchs», waren Zeichen einer teilweisen Abkopplung vom deutschen Markt, die aber nie vollständig gelang. Innerhalb der Buchhändlerzunft war Lang ein entschiedener Wortführer einer engen Zusammenarbeit mit den Bundesbehörden und der Ausrichtung der Verbandspolitik auf die Ideen der Geis­tigen Landesverteidigung. Seitens der Abteilung Presse und Funkspruch (APF) des Militärs wurde ihm im September 1939 die Leitung der Sektion Buchzensur angeboten. Diese richtete sich in ihrer Arbeit nach dem sogenannten Grunderlass, in dem es bloss hiess, dass alle Äusserungen verboten seien, welche «die Behauptung der Unabhängigkeit der Schweiz gegen aussen, die Wahrung der inneren Sicherheit und die Aufrechterhaltung der Neu­tralität» beeinträchtigen könnten. (59) Als Sanktionen waren Beanstandung, Änderungsvorschläge, Verbot und Beschlag­nahmung vorgesehen. Für die Beurteilung von Werken wurden circa 50 meist informell angeworbene Gutachter hinzugezogen. Besonders häufig waren dies Akademiker sowie Buchhändler oder Journalisten. Sie hatten im Prinzip immer die einzige Frage zu beantworten, «ob das Buch im heutigen Moment und bei der gefahrvollen Lage unseres Landes der Öffentlichkeit preis­gegeben werden darf». (108) Keller betrachtet speziell die von der Sektion Buchhandel begutachteten Bücher der vier Kategorien «Nachkriegsszena­rien», «Holocaust und Flüchtlingspolitik», «Ästhetik/Kunst» und «Wissenschaft». Zur Kategorie 1 rechnet er alle Werke, die sich Gedanken zu einer Neuordnung Europas nach dem Krieg machten, wobei die Schweiz dabei implizit oder explizit immer inbegriffen war. Wurde die Neu­tralität dabei infrage gestellt oder gar ne­giert, konnte es nur eine Antwort geben: das Verbot. Die Gutachter taxierten die pazifistischen Schriften als Träumereien und konnten sich eine Neuordnung nicht ohne Grossmachtpolitik denken. So wurde den allermeisten Nachkriegskonzeptionen mit äusserster Skepsis und Ablehnung begegnet, egal von welcher Kriegsseite oder Partei sie kamen. Was den Holocaust betrifft, so fürchteten sich die Experten lange vor der Freigabe von Werken, die davon Zeugnis ablegten oder gar die Nationalsozialisten ihrer Verbrechen anklagten. Zu einem Werk aus der Feder Thomas Manns notierte ein Gutachter: «A priori müssen wir uns auf den Standpunkt stellen, dass der Verfasser sich im Irrtum befindet, wenn er dem Oberhaupt jenes Volkes, das einen Goethe, einen Hölderlin, einen Novalis, hervorgebracht hat, Charaktereigenschaften zuspricht, die so weit entfernt sind von dem, was man sich im allgemeinen unter einem führenden Staatsmanne vorstellt.» (180) Was nicht sein durfte, konnte offenbar nicht sein. Mit der Zeit begann man die sich häufenden Berichte über die Gräuel­taten für glaubhaft zu halten. Dennoch werteten die Gutachter es fast bis zum Kriegsende als inopportun, dies breit zu publizieren. Insbesondere wo sich die Berichte mit der direkten Anklage der Täter und/oder mit der Behauptung der systematischen Massenvernichtung verbanden, fielen sie dem Rotstift zum Opfer. Andererseits wurde auch nationalsozia­listische Hetzpropaganda verboten, so etwa Jud Süss. Belletristik wurde von der Zensur ebenfalls beurteilt. Dabei zeigt sich eine aufschlussreiche Analogisierung der Neutralität mit einer zeitlosen Kunst. Positiv gewertet wurde der Einsatz für allgemeinmenschliche Werte. Je stärker die Werke hingegen Bezug nahmen auf die reale Welt, desto eher sah man darin versteckte Anklagen und verurteilte das mitunter gar als «Missbrauch der künstlerischen Freiheit». (217) Sehr negativ wurden die Werke moderner Kunstrichtungen beurteilt, wobei manchmal gar der Lebensstil der Autoren mit in den Verriss einbezogen wurde. Insbesondere gegenüber Exilanten zeigt sich eine sehr feindselige Haltung. Je höher andererseits der künstlerische Wert einer Arbeit eingeschätzt wurde, desto eher wurde über gewisse politische Einflechtungen hinweg gesehen. So heisst es etwa zu einem Drama von Franz Werfel, das behandelte Thema liege zwar «im Gebiet des Unneutralen», doch der «echte Werfel» sei es wert, beachtet und besprochen zu werden. (224) Unter Ideologieverdacht gerieten zudem viele wissenschaftliche Werke. Vor allem historische und sozialwissenschaftliche Studien standen auf dem Prüfstand. Was als offene Propaganda für den Na­tionalsozialismus oder den Kommunis­mus angesehen wurde, fand keine Gnade. Anderes wurde als «Zweckwissenschaft» sehr kritisch beurteilt, aber dennoch grösstenteils freigegeben. Als Ideal der Gutachten lässt sich wiederum die Neutralität herausarbeiten, wobei sie hier mit Nüchternheit, Unparteilichkeit und grösstmög­licher Objektivität analogisiert wird. Keller zeigt in seiner dichten und interessanten Studie auf, dass das simple Bild der Zensur als staatlicher Repression (von oben) für das Wirken der Schweizer Buchzensur im Zweiten Weltkrieg in die Irre führt. Die Mitarbeiter der Sektion ver­standen ihre Arbeit nicht als Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern vielmehr als Beitrag zu ihrer Erhaltung. Zensur wird in diesem Verständnis als kleine Beschränkung der Freiheit (des Individuums) verstanden, die aber nötig und legitim ist, um die Freiheit, Unabhängigkeit und Neutralität (des Staats) zu retten. So wurde die Zensur in der Schweiz nach dem Krieg auch praktisch gleich gerechtfertigt wie die aus heutiger Perspektive harther­zige Politik gegenüber den Hilfe suchenden Flüchtlingen. Das traditionelle Milizsystem förderte den Einbezug der direkt Betroffenen in das System der Zensur, die häufig auch eine Selbstzensur war: Vieles wurde gar nicht erst zum Druck gebracht und nicht wenige Schriften wurden nur mit Auflagen freigegeben. Insgesamt zeigt sich, dass die «kleinen Zensoren» in ihrer Arbeit immer Deutschland als «grossen Zensor» vor Augen hatten. Dabei schöpften sie den möglichen Handlungsspielraum wohl nicht aus. Aus Angst davor, dem grossen Nachbar Munition zu liefern für eine mögliche Anprangerung der Schweiz, wurde im Zweifel eher zu viel als zu wenig zensiert. Der vom Naziregime geforderten «Gesinnungsneutralität» war die Schweiz damit viel näher als man es sich einzugestehen bereit war. Nach dem Krieg wurde von den Akteuren die politische Abgrenzung zu Deutschland betont, die sich unter anderem im Verbot nationalsozialistischer Hetzschriften äusserte. Die Parallelität der kulturellen Entwicklung zwischen der Schweiz und Deutschland wurde dagegen ausgeblendet. Diese zeigt sich weniger in den verfügten Massnahmen (Verbot, Än­derungen) als vielmehr im Wortlaut der Gutachten, besonders zur modernen Literatur. Es ist Kellers Verdienst, dass er den Blick für dieses dunkle Kapitel der jüngeren Zeitgeschichte schärft.
Raphael Fischer (Luzern) in Traverse