Melchior Russ: Cronika
Eine Luzerner Chronik aus der Zeit um 1482
Gebunden
2009. 232 Seiten, 10 Farbabbildungen
ISBN 978-3-0340-0949-2
CHF 58.00 / EUR 37.50 
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Im Jahr 1482, nur ein Jahr nach dem Stanser Verkommnis, begann der Luzerner Melchior Russ seine Arbeit an einer Chronik der Stadt Luzern. Vom Ursprung der Stadt bis in die Gegenwart des Schreibers sollte der Text die Geschichte der Stadt Luzern und ihrer Verbündeten beschreiben. Aus unbekannten Gründen konnte der Chronist sein Werk nicht vollenden und die in der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern aufbewahrte Handschrift blieb Fragment.
Geschichtsschreibung im Mittelalter bedeutet Kompilation, eine Technik, welche Melchior Russ meisterhaft beherrschte. So schöpfte er über weite Strecken aus der Berner Chronik des Conrad Justinger, bezog zudem Werke frühhumanistischer Autoren mit ein. Als «kreativer Kompilator» setzte Russ seine Quellen in durchaus eigenständiger Weise neu zusammen und nahm jede Gelegenheit wahr, die Leistungen der Luzerner zu unterstreichen. So treten diese als handelnde Personen bei Ereignissen auf, an denen sie sicher nicht beteiligt waren, wie etwa dem Königsmord von Windisch. Daneben enthält die Cronika Textstellen, welche von motivgeschichtlicher Bedeutung sind, vor allem die sogenannte Urner Version der Tellengeschichte, in der Tell den Landvogt von der Tellsplatte aus erschiesst.
Die vorliegende Arbeit beinhaltet eine neue Edition des Textes in einer buchstabengetreuen und zeilengenauen Transkription und einen Kommentar.
Pressestimmen
«Dissertationen haben nicht die erstrangige Pflicht, sich um ein breites Publikum zu bemühen. Umso schöner, wenn eine doch auch dem Laien zugänglich bleibt. Das gelingt hier, un ein reizvoller Einblick ins historische Luzern, aber auch in die Weltsicht eines vielgereisten und gelehrigen Menschen des späten Mittelalters.» Info-Bulletin der Umwelt Mediathek Luzern

«L'ensemble donne une édition très proche du manuscrit original, idéale pour citer le texte...L'édition est enrichie d'une centaine de notes qui présentent des personnages mentionnés dans le texte ou donnent la date d'un événement. De belles photographies du manuscrit donnent une idée de son apparence, et un index des noms de personnes et de lieux, portant sur l'édition et le commentaire, en facilite l'accès.» Olivier Richard, Revue de l'Institut français d'histoire en Allemagne

Besprechungen
Regula Schmid Chroniken und deren spezifische spätmittelalterliche Formen scheinen in der Mittelalterforschung momentan im Schwang zu sein. In letzter Zeit sind gerade drei eindrückliche Arbeiten zu spätmittelalterlichen eidgenössischen Chroniken erschienen: eine Habilitation von Regula Schmid, eine Dissertation von Maya Vonarburg Züllig, beide in Zürich angenommen, und eine weitere Dissertation von Andre Gutmann, der damit im grenznahen Freiburg im Breisgau promoviert wurde. Die Dissertationen und Editionen von Vonarburg Züllig und Gutmann bestechen durch grundlegende Quellenrecherchen, sorgfältige editorische Vorgehensweisen und liefern der Forschung vielfältige und neue Erkenntnisse bezüglich der Arbeitsweise und Selektion der Quellen ihrer Autoren. […] Maya Vonarburg Zülligs Arbeit legt den Fokus auf Melchior Russ’ Cronika von 1482, die sie neben einer eingehenden Analyse und Neueinordnung auch nach den heutigen Standards neu ediert. Eine insbesondere für die Luzerner Geschichte wünschenswerte Neuedition, welche die Bedeutung von Russ in ein neues Licht rückt, ihn nicht mehr nur als reinen Kompilator bewertet, sondern auch seine Eigenleistungen und die biografischen Eckdaten betont. Bei Russ wird deutlich, dass seine Chronik trotz ihrer bescheidenen Seitenzahl (41 vorne und hinten eng beschriebene Papierseiten, interessanterweise mit Leerräumen für eine spätere Illustrierung) Grosses vor hatte: Sie sollte die Geschichte der Stadt Luzern neu erzählen und ins­besondere den Bezug zur eidgenössischen Befreiungstradition stärken. So wurden aus Berner plötzlich Luzerner Kriegshelden und Schlachtenteilnehmer, in erwähnten Urkunden erscheinen königliche Privi­legien, welche die Stadt Luzern nie erhalten hatte. Russ verfasste seine Chronik vermutlich, um in Luzern seine Ansprüche innerhalb der Führungsschicht zu stärken, immerhin war er von König Corvinus zum Ritter geschlagen worden. Die Vermutung der Autorin, dass Russ seinem Vater im Stadtschreiberamt nachfolgen wollte, ist hingegen irreführend, denn für diesen Pos­ten wäre er wohl zu einflussreich – somit für die Führungsschicht zu gefährlich – gewesen und zudem hätte er kaum Chancen gehabt, weil andere Schreiber schon länger in der Warteposition waren. Ein Rätsel bleibt leider immer noch, weshalb die Chronik nie fertiggeschrieben wurde, sondern unmittelbar abbrach. Deutlich wird in der ausgezeichneten Arbeit von Vonarburg Züllig, dass die Kontextualisierung von Chroniken zwar bedeutende Neuerkenntnisse bringt, aber längst nicht alle offenen Fragen beantworten kann. […] Allen drei Arbeiten ist gemein, dass sie neben der sehr wichtigen Grundlagenforschung, Erschliessungsarbeit und historischen Kontextualisierung die Bedeutung der Chroniken und ihrer Autoren für die Folgezeit insbesondere für die heutige Geschichtsschreibung in den Vordergrund rücken und gleichsam neue Fragenkomplexe aufwerfen. Während die Historiker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, typisch für den Historismus urkundenfixiert, mittelalterliche Chroniken oftmals als zu poetisch oder zu sagenhaft abtaten, gelten Chroniken heute als wichtige Elemente der spätmittelalterlichen Schriftkultur und werden dementsprechend als Produkte ihrer Zeit verstanden; als kulturelle Produkte, aus denen die heutige Geschichtsschreibung wie auch die Germanistik vor allem neue Indizien über Textualitäten, Medialitäten und narrative Logiken lernen kann. Nicht die einzelnen Inhalte, Heldentaten und Ereignisse stehen bei einer solchen Analyse im Vordergrund, sondern letztlich interessiert die Forschung heute mehr die Art und Weise des Umgangs der Chronisten mit der eigenen Vergangenheit, mit dem ihnen vorliegenden Material wie beispielsweise ältere Chroniken und Urkunden, mit den eigenen narrativen Strategien, mit Bildern im Verhältnis zum Text und wie die Autoren alle diese Elemente zu Geschichten verwebten. Es liegen nun für den schweizerischen Raum drei sehr wichtige Arbeiten vor und man kann ihnen nur wünschen, dass sie alle breit rezipiert werden und ihrer Vorbildhaftigkeit weitere Forschungen und Editionen folgen.
Michael Jucker (Luzern) in Traverse