1933 begann das künstliche Vitamin C seinen Aufstieg als eine Art Wunderdroge. Heute findet es sich nicht nur in Multivitaminpräparaten, sondern beispielsweise auch zu Konservierungszwecken in verschiedenen Nahrungsmitteln. Das vorliegende Buch zeichnet die fesselnde Geschichte der komplexen Herstellung und der ausgefeilten Vermarktung nach und zeigt auf, wie kulturelle, ökonomische, politische und technische Mechanismen zum Erfolg beitrugen. Zahlreiche Akteure waren an diesem Erfolg beteiligt. Es war jedoch das Basler Pharmaunternehmen Hoffmann-La Roche, das ausgehend von Patentrechten von Tadeus Reichstein eine marktbeherrschende Position im Vitamin-C-Geschäft eroberte. Um dem künstlichen Vitamin C zum Durchbruch zu verhelfen, wurden – im Verbund mit Gesundheitsbehörden – neue Krankheitsbilder geschaffen, welche die Einnahme von Vitamin C als ratsam erscheinen liessen. Der Konsum von Vitamin C wurde im Schatten des Zweiten Weltkriegs zu einer neuen Bürgerpflicht und für die Aufrechterhaltung der Gesundheit in industriellen Gesellschaften als notwendig angesehen. Dabei galt die Sorge nicht mehr nur der individuellen, sondern immer mehr auch der Gesundheit des «Volkswirtschaftskörpers». Das Quellenmaterial stammt aus dem Nachlass des Nobelpreisträgers Reichstein sowie aus dem Historischen Archiv Roche. Es bietet seltene Einblicke in die Funktionsweise wissenschaftlicher Propaganda und in die Entwicklung eines modernen industriellen Verfahrens in der pharmazeutischen Industrie.
I. Einleitung II. Die Geburt von Vitamin C im Labor: Reichstein und Roche Die Genese der Reichstein-Synthese: eine freundschaftliche Arbeitsgemeinschaft und ein produktiver Irrtum - Tadeus Reichstein: zwischen Alchemie und «Kaffee Zaun» - Patentanmeldung und die Suche nach einer «Chemischen Fabrik» Roche und die Vitamine - Das Unternehmen Hoffmann-La Roche - Die ersten Auseinandersetzungen bei Roche um die «hochhängenden sauren Vitamin-Trauben» - 1933: «Nationalsozialistische Revolution», amerikanischer Dollarsturz und Vitamin C Natürliches oder synthetisches Vitamin C? Evaluationen vor und hinter verschlossenen Türen - Verhandlungen und Streitigkeiten in Zürich Die Entwicklung eines chemisch-biotechnologischen Verfahrens - Von der d- zur l-Ascorbinsäure - Der biotechnische Verfahrensschritt: Recycling von Wissen - Haco und Roche werden handelseinig III. Die Politik der Patente Die Publikation der Reichstein-Synthese in den «Helvetica Chimica Acta» Patentrechtliche Evaluationen: nichtintendierte Nebenwirkungen und Apparaturenfragen Verhandlungen zwischen Roche und Chemiegiganten im «Dritten Reich» - Patent- und Lizenzverhandlungen mit Merck - Die IG Farbenindustrie tritt auf den Plan - Neuverhandlungen zwischen Roche und Merck Neuverhandlungen zwischen Haco und Roche Die Erteilung des «Deutschen Reichspatents»: der prekäre Status von Vitamin C zwischen Chemikalie und Arzneimittel - Merck: Vitamin C und die deutsche Wehrmacht - IG Farbenindustrie: Freilizenzen zur Umgehung des «Clearing»-Systems IV. Hochschul- und Industrieforschung: die Anfänge der Biotechnologie bei Roche Biotechnologie als «revolutionäre Methode»? - Vom Flachschicht- zum Tiefgärverfahren - Menschliches und Allzumenschliches im Gärkeller von Roche Die Reichstein-Synthese in Deutschland: Bakterien und Gestapo V. Vom Stoff zur Ware: synthetisches Vitamin C als Functional Food Nestrovit und die Einverleibung der Vitamine in die Lebensmittelgesetzgebung – Nestlés Angst vor den Ärzten Vom künstlichen Vitamin C zum Multivitaminpräparat Wie vermarktet man künstliche Vitaminzusätze in Naturprodukten? Die Schöpfung eines Markenzeichens Nestrovit: ein Nahrungs- oder ein Heilmittel? Die Regulierung der «Vitaminpsychose» Nestrovit kommt auf den Markt Vitamin C als Todesurteil für «Ovomaltine» VI. Wissenschaftliche Propaganda in Aktion: die Erfindung eines neuen Krankheitsbildes Wie man PatientInnen eine neue Krankheit andichtet - Die Lancierung von Redoxon auf dem Forschungsmarkt - Optimale Gesundheit und der statistische Gesundheitsbegriff: von der individuellen zur Gesundheit des Volkskörpers - Diagnostika und die Sichtbarmachung der C-Hypovitaminose Vom Skorbut zum Kampf gegen die Ermüdung: Sportlerkörper als lebende Metaphern - Sportärzte und Sportlerkörper im Fadenkreuz der Vitamin-C-Propaganda - Roche und Versuche mit Vitamin C in Deutschland - Ist Vitamin C ein Dopingmittel? - Die Arbeit an den Metaphern VII. Vitamin C und der Zweite Weltkrieg Entgegnungen: schweizerisches Vitamin C und die Schweizer Armee - Die Kritik des Oberfeldarztes - Versuche mit synthetischem Vitamin C in der Armee - Der Eidgenössische Armeeapotheker meldet sich zu Wort - General Guisan und Vitamin C Die Reichstein-Synthese auf der Landesausstellung 1939: die Renaturierung des kranken «Volkswirtschaftskörpers» - Roche inszeniert die Reichstein-Synthese als schweizerische Grosstechnologie - Migros: mit Hagebutten gegen künstliches Vitamin C - Vitamin C als «ergozymartiger Kunststoff» - Die Renaturierung von Konserven Der Ausbau der Vitamin-C-Produktion im Zweiten Weltkrieg - Mode oder Krieg: Was hat die Reichstein-Synthese mit Russlands Öl- und Weizenfeldern zu tun? - Skalenökonomie: von der Opiate- zur Vitamin-C-Produktion - Eine wissenschaftliche Studienkommission aus dem «Dritten Reich» bei Roche: Vitamin C oder Munition und Zünder? - Roche, Reichstein und das «Dritte Reich» Die Übersetzung von Vitamin C in die Interessen der Gesundheitspolitik - Die Eidgenössische Kommission für Kriegsernährung und der menschliche Instinkt - Die Vitaminisierung von Arbeiterkörpern: Grippe und «Vita-Versicherung» - Der Zweite Weltkrieg als günstiges «climat psychologique» - «Unser tägliches Brot»: Vitamine im Klassenzimmer Die Festschreibung des Vitamin-C-Bedarfs - Die Wahlverwandtschaften zwischen wissenschaftlicher Forschung und Propaganda - Die Aufnahme der Vitamine in die Pharmakopöe und das Schweizerische Vitamin-Institut VIII. Kriegsschäden und die Einpassung von Vitamin C in die Nachkriegszeit Transformationen bei Roche: eine neue «Vitamin-Politik» nach dem Krieg - Biotechnologie und die Reorganisation der Roche-Forschung Auf dem Weg in die Konsumgesellschaft: neue Märkte für Vitamin C in der Nachkriegszeit - Nahrung, Nation und die Materialisierung des statistischen Gesundheitsbegriffs VIII. Epilog: eine Explosion in Basel, das Wunder von Bern und «Golden Powder» 239
Die in dieser Reihe erscheinenden Studien untersuchen technische und wissenschaftliche Entwicklungen in der Neuzeit. Sie fragen nach dem historischen Entstehungskontext und gehen der Frage nach, inwiefern verschiedene soziale Gruppen diese technischen Entwicklungen als Möglichkeit sozialen Wandels wahrgenommen, ausgehandelt und bisweilen genutzt oder vergessen haben. Der Ansatz erlaubt es, Innovationen als technisch und gesellschaftlich voraussetzungsreiche Prozesse zu verstehen und zu erklären.