Die Dissertation von Hans Jakob Ritter knüpft an seit Mitte der 1990er-Jahre innerhalb der Psychiatriegeschichte neu entwickelte Forschungsansätze an, welche die Etablierung der psychiatrischen Disziplin im Zusammenhang mit staatlicher Sozialpolitik und der Herausbildung eugenischer Denk- und Handlungsmuster zu analysieren versuchen. In diesem Forschungskontext geht Ritters Dissertation der Wechselwirkung zwischen schweizerischer Psychiatrie und Eugenik nach und setzt sich von einer bisher vorwiegend von Fachvertretern betriebenen Fachgeschichte ab, welche die Koexistenz und Beharrlichkeit von unterschiedlichen Ansätzen im Umgang mit psychisch Kranken betonte und in diesem Zusammenhang eugenische Praktiken tendenziell ausblendete. Im Kontrast hierzu möchte Ritters Arbeit darlegen, wie eugenisch motivierte psychiatrische Praktiken sich vielmehr parallel zu reformerischen Konzepten etablierten. Zwar betont Ritter als ein Hauptergebnis seiner Untersuchung, dass die Eugenik schweizerischer Prägung im Gegensatz zu ihrer nationalsozialistischen Form weniger auf einen biologischen Rassismus ausgerichtet war und sich an administrative Verfahren, medizinisch-psychiatrische Praktiken und Vorstellungen anschloss, «die mit der bürgerlich-liberalen Auffassung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu vereinbaren waren». (353) Allerdings hebt er hervor, dass gerade eugenische Diskurse und Praktiken einen grundlegenden Beitrag zur Etablierung und Professionalisierung schweizerischer Psychiatrie leisteten. Im europäischen Vergleich übernahm die schweizerische Psychiatrie eine Vorreiterrolle in der Propagierung und Durchführung von eugenischen Massnahmen. Die Radikalisierungstendenz eugenischer Konzepte in der Geburten- und Bevölkerungskontrolle blieb allerdings stets beschränkt. Auch wenn Schweizer Psychiater eugenische Massnahmen bei Geisteskranken und Geistesschwachen befürworteten, lehnten sie Zwangsgesetze ab und distanzierten sich deutlich von der nationalsozialistischen Politik der Erb- und Rassenpflege.
Nach einer ausführlichen Einleitung, die Forschungskontext, Fragestellung, Methoden und Quellen erläutert, setzt sich Ritters Arbeit mit dem Auf- und Ausbau der schweizerischen Anstaltspsychiatrie auseinander. Im Zeitraum von 1850–1920 entstanden in verschiedenen Schweizer Kantonen grössere, von den somatischen Spitälern unabhängige Irrenanstalten. Die gleichzeitige Professionalisierung und die Entstehung der schweizerischen Psychiatrie als eine selbstbewusste medizinische Teildisziplin lässt sich entlang der Gründung des Vereins schweizerischer Irrenärzte im Jahre 1864, der Bemühungen um eine schweizweite Kodifizierung des Irrenrechts und der Verankerung des Faches im medizinischen Curriculum nachvollziehen. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war der Verein schweizerischer Irrenärzte mit der Organisation einer schweizerischen Irrenstatistik befasst. Die 1867 erreichte Einigung auf ein überkantonales Klassifikationssystem der Geisteskrankheiten ermöglichte eine statistische Erfassung von psychisch Kranken. Als deren Hauptergebnis stellte sich die Zunahme von psychisch Kranken in der Bevölkerung und von stationär behandelten Patienten heraus. Dieser Befund bildete den unmittelbaren Hintergrund für die Herausbildung und Verbreitung von eugenischen Denk- und Handlungsmustern in der schweizerischen Psychiatrie seit Ende des 19. Jahrhunderts.
In einem weiteren Kapitel erläutert Ritter, wie Psychiater mit der konstitutionellen und zivilgesetzlichen Verankerung eines Eheverbots für Geisteskranke zu Experten für Fragen der Bevölkerungs- und Sozialpolitik aufgewertet wurden. Bereits in der schweizerischen Bundesverfassung von 1874 war Geisteskranken und Blödsinnigen die Ehe untersagt worden. Dieses Heiratsverbot wurde allerdings weniger mit hygienischen Argumenten begründet, vielmehr war die Rechtsunfähigkeit von betroffenen Personen ausschlaggebend. Erst im Zivilgesetzbuch von 1912 wurden an die Stelle der traditionellen Eheeinschränkungen medizinisch-psychiatrische Prohibitivbestimmungen eingeführt. Das Zivilgesetzbuch definierte ein absolutes Eheverbot für Geisteskranke, das nicht mehr an das Kriterium der Urteilsfähigkeit gekoppelt war. Die Ehefähigkeit konnte anhand eines psychiatrischen Gutachtens durch einen richterlichen Entscheid entzogen werden. Die Durchsetzung von Eheverboten baute somit auf eine Arbeitsteilung und Kompetenztrennung zwischen Psychiatrie und Justiz, welche die Autonomie der Psychiater insofern wahrte, als bei der Auslegung des Eheverbotsartikels keine genauen psychiatrischen Indikationen definiert worden waren. Über das Eheverbot hinaus beteiligten sich Psychiater an Diskussionen über die Sterilisation, Abtreibung und Kastration bei Geisteskranken, die im Kontext des seit Ende des 19. Jahrhunderts anlaufenden Prozesses der Strafrechtsvereinheitlichung stattfanden. Dabei unterstützten sie eine Praxis von im Kontext der Anstaltspsychiatrie bereits durchgeführten Eingriffen, die individuell-medizinisch begründet wurden, gleichzeitig befürworteten sie aber auch die Einbeziehung sozialer und eugenischer Begründungen in die medizinische Indikation – diese allein erschien rechtlich zulässig. Diese Position lässt sich an den Debatten über den geplanten Abtreibungsartikel im in der Volksabstimmung von 1937 angenommenen Strafgesetz nachvollziehen. Ritter weist darauf hin, dass eugenische Argumente ein Mittel waren, «um den Gemeinnutzen der psychiatrischen Disziplin in einem politischen System zu unterstreichen, das im Gegensatz zum wilhelminischen Deutschland über nur schwach ausgeprägte obrigkeitsstaatliche Strukturen verfügte». (140)
Ritter setzt sich nicht nur mit der fachinternen Diskussion, sondern auch mit der eigentlichen Begutachtungspraxis im Zusammenhang mit Eheverbot, Sterilisation und Abtreibung auseinander. Ausgehend von der Auswertung von Krankenakten aus dem Archiv der universitären psychiatrischen Kliniken Basel weist er auf die enge Kooperation zwischen Psychiatrie und Behörden der Gesundheits- und Sozialverwaltung im Kanton Basel-Stadt hin. Die exemplarischen Fallanalysen geben Einblicke in eine psychiatrische Begutachtungspraxis, welche die Bestätigung der Ehefähigkeit von der Einwilligung in eine Sterilisation abhängig machte. Allerdings konnten sich betroffene Personen zum Teil erfolgreich gegen Eheeinspruch oder Sterilisationen durchsetzen. Bei den Behörden überwog das kostenpräventive Interesse an den Eingriffen. Ein weiterer interessanter Befund von Ritters Studie liegt in der Feststellung einer geschlechtsspezifischen Ausdifferenzierung von Indikationsstellungen bei Sterilisation und Kastration. So wurde etwa die Sterilisation bei Frauen vor allem aus «individuell-medizinischen» Gründen verfolgt, während bei psychopathischen Männern eugenische Beweggründe der Sterilisation im Vordergrund standen.
Der letzte Teil der Arbeit befasst sich mit Verschärfungen des eugenischen Eheverbots im schweizerischen Zivilgesetzbuch, die im Rahmen einer Familienschutzinitiative diskutiert wurden. Eugenische Motive und Ziele bildeten den Fokus vieler dieser zum Teil von Psychiatern angeregten Debatten, allerdings scheiterten eugenisch motivierte Vorstösse zugunsten einer Ausweitung der Eheausschlussbestimmungen. In diesem Zusammenhang zeigt Ritter, wie Psychiater sich im Lauf des Kriegs von einer bevölkerungspolitischen Ausrichtung eugenischer Massnahmen distanzierten.
Mit seiner Dissertation präsentiert Ritter eine schlüssige und umfassende Darstellung der Wechselwirkung zwischen Psychiatrie und Eugenik. Aber er leistet noch mehr als das: Entlang seiner ausführlichen Rekonstruktion eugenischer Denk- und Handlungsmuster liefert er einen erstklassigen Beitrag zur Professionalisierungsgeschichte schweizerischer Psychiatrie und gibt somit Anregungen für eine neuartige Auseinandersetzung mit der Geschichte der Psychiatrie in anderen Ländern. Dem eingeweihten Leser wird die fehlende Behandlung der Geschichte um die Entstehung des ersten Zwangssterilisationsgesetzes von 1928 im Kanton Waadt zwar auffallen – nach abgeschlossener Lektüre ist jedoch die Annahme naheliegend, dass es sich bei diesem Gesetzesakt um eine Ausnahme handelte, welche die Regel bestätigt.
«Dennoch oder gerade deswegen ist Hans Jakob Ritter eine überzeugende Gesamtdarstellung der Psychiatrie und der psychiatrischen Eugenik in der Schweiz von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gelungen, die allen Interessierten zur Lektüre empfohlen werden kann.»
Hans-Walter Schmuhl, NTM, Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaft, Technik und Medizin
«Entstanden ist vielmehr eine souveräne Arbeit zur Entstehungs- und Professionalisierungsgeschichte der Schweizer Psychiatrie.»
Ute Planert, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte