Psychiatrie und Eugenik

Zur Ausprägung eugenischer Denk- und Handlungsmuster in der schweizerischen Psychiatrie, 1850–1950

Broschur
2009. 440 Seiten
ISBN 978-3-0340-0922-5
CHF 58.00 / EUR 35.00 
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Das Buch verfolgt die Entwicklungen, die zur Ausprägung eugenischer Denk- und Handlungsmuster in der schweizerischen Psychiatrie führten, und zeigt die Gründe für das eugenische Engagement schweizerischer Psychiater auf.

Schweizer Psychiater wie Auguste Forel gehörten um 1900 zu den frühesten Vertretern eugenischer Postulate in Europa. Sie erforschten früh die Vererbung psychischer Krankheiten, sie unterstützten das Eheverbot für Geisteskranke des schweizerischen Zivilgesetzes von 1912, und sie forderten im Sinne prophylaktischer Massnahmen die «Unfruchtbarmachung» von Geisteskranken. Damit reagierten sie auf die als bedrohlich wahrgenommene Zunahme von Eintritten in die psychiatrischen Anstalten. Die Eugenik und die Degenerationstheorie erklärten gewissermassen die Schwierigkeiten der zeitgenössischen Psychiatrie bei der Behandlung ihrer PatientInnen und dienten als Ansatz zur Begründung sozialinterventionistischer Eingriffe.

Beleuchtet wird die Mitarbeit der Psychiater sowohl bei der Vernehmlassung des schweizerischen Zivilgesetzes von 1912 als auch beim schweizerischen Strafgesetz von 1942. Am Beispiel des Kantons Basel-Stadt wird gezeigt, wie bei der Begutachtung der «Ehefähigkeit» und bei der Indizierung von Abtreibungen und Sterilisationen verfahren wurde. Nahm die schweizerische Psychiatrie bis in die 1930er Jahre eine europäische Vorreiterrolle bei der Propagierung und Indizierung eugenisch mitbegründeter Massnahmen ein, überwog ab Mitte der 1930er Jahre die Abgrenzung gegenüber der völkisch radikalisierten Eugenik im benachbarten NS-Deutschland. Schweizer Psychiater und Behördenvertreter vertraten nun betont ein «schweizerisches» Vorgehen bei Sterilisationen: Man ging davon aus, dass jeder Fall individuell geprüft und ein Eingriff nur mit der Einwilligung der Betroffenen durchgeführt werden sollte. Noch während des Zweiten Weltkriegs diskutierte man allerdings ein Gesetz zur Verschärfung des Eheverbots für Geisteskranke. Die Analyse dieses Beratungsprozesses, bei dem die Psychiater ihre anfängliche Unterstützung des Unterfangens aufgaben, schliesst das Buch ab.

Hans Jakob Ritter, geboren 1969, hat in Basel Geschichte, Philosophie und deutsche Literaturwissenschaft studiert und im Fach Geschichte promoviert. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik der Universität Zürich und bildet sich zum Gymnasiallehrer aus.


Bücher im Chronos Verlag

Inhalt

1. Einleitung

2. Zum Auf- und Ausbau der schweizerischen Anstaltspsychiatrie

3. Die Etablierung eugenischer Denk- und Handlungsmuster in der schweizerischen Psychiatrie

4. Psychiatrie und Eugenik in der Zwischenkriegszeit

5. Eheverbot, Sterilisation und Abtreibung im Kanton Basel-Stadt

6. Die Diskussion des Eheverbots auf Bundesebene im Kontext von Familienschutzpolitik, Eugenik und geistiger Hygiene

7. Zu Kontinuität und Diskontinuität der Eugenik in der schweizerischen Psychiatrie nach 1945

8. Zusammenfassung und Überblick


Pressestimmen

«Dennoch oder gerade deswegen ist Hans Jakob Ritter eine überzeugende Gesamtdarstellung der Psychiatrie und der psychiatrischen Eugenik in der Schweiz von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gelungen, die allen Interessierten zur Lektüre empfohlen werden kann.»
Hans-Walter Schmuhl, NTM, Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaft, Technik und Medizin


«Entstanden ist vielmehr eine souveräne Arbeit zur Entstehungs- und Professionalisierungsgeschichte der Schweizer Psychiatrie.»
Ute Planert, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte


Besprechungen

Die Dissertation von Hans Jakob Ritter knüpft an seit Mitte der 1990er-Jahre innerhalb der Psychiatriegeschichte neu entwickelte Forschungsansätze an, welche die Etablierung der psychiatrischen Disziplin im Zusammenhang mit staat­licher Sozialpolitik und der Herausbildung eugenischer Denk- und Handlungsmuster zu analysieren versuchen. In diesem Forschungskontext geht Ritters Dissertation der Wechselwirkung zwischen schwei­ze­rischer Psychiatrie und Eugenik nach und setzt sich von einer bisher vorwiegend von Fachvertretern betriebenen Fachgeschichte ab, welche die Koexistenz und Beharrlichkeit von unterschiedlichen Ansätzen im Umgang mit psychisch Kranken betonte und in diesem Zusammenhang euge­nische Praktiken tendenziell ausblendete. Im Kontrast hierzu möchte Ritters Arbeit darlegen, wie eugenisch motivierte psychia­trische Praktiken sich vielmehr parallel zu reformerischen Konzepten etablierten. Zwar betont Ritter als ein Hauptergebnis seiner Untersuchung, dass die Eugenik schweizerischer Prägung im Gegensatz zu ihrer nationalsozialistischen Form weniger auf einen biologischen Rassismus aus­gerichtet war und sich an administrative Verfahren, medizinisch-psychiatrische Praktiken und Vorstellun­gen anschloss, «die mit der bürgerlich-liberalen Auffassung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu vereinbaren waren». (353) Allerdings hebt er hervor, dass gerade eugenische Diskurse und Praktiken einen grundlegenden Beitrag zur Etablierung und Professio­na­lisierung schweizerischer Psychiatrie leisteten. Im europäischen Vergleich übernahm die schweizerische Psychiatrie eine Vorreiterrolle in der Propagierung und Durchführung von eugenischen Massnahmen. Die Radika­lisierungstendenz eugenischer Konzepte in der Geburten- und Bevölkerungskontrolle blieb allerdings stets beschränkt. Auch wenn Schweizer Psychiater eugenische Massnahmen bei Geisteskranken und Geistesschwachen befürworteten, lehnten sie Zwangsgesetze ab und distanzierten sich deutlich von der nationalsozialis­tischen Politik der Erb- und Rassenpflege.
Nach einer ausführlichen Einleitung, die Forschungskontext, Fragestellung, Methoden und Quellen erläutert, setzt sich Ritters Arbeit mit dem Auf- und Ausbau der schweizerischen Anstaltspsychiatrie auseinander. Im Zeitraum von 1850–1920 entstanden in verschiedenen Schweizer Kantonen grössere, von den somatischen Spitälern unabhängige Irrenanstalten. Die gleichzeitige Professionalisierung und die Entstehung der schweizerischen Psychiatrie als eine selbstbewusste medi­zinische Teildisziplin lässt sich entlang der Gründung des Vereins schweizerischer Irrenärzte im Jahre 1864, der Bemühungen um eine schweizweite Kodifizierung des Ir­renrechts und der Verankerung des Faches im medizinischen Curriculum nachvoll­ziehen. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war der Verein schweizerischer Irrenärzte mit der Organisation einer schweizerischen Irrenstatistik befasst. Die 1867 erreichte Einigung auf ein überkantonales Klassifikationssystem der Geisteskrankheiten ermöglichte eine sta­tistische Erfassung von psychisch Kranken. Als deren Hauptergebnis stellte sich die Zunahme von psychisch Kranken in der Bevölkerung und von stationär behandelten Patienten heraus. Dieser Befund bildete den unmittelbaren Hintergrund für die Herausbildung und Verbreitung von eugenischen Denk- und Handlungsmustern in der schweizerischen Psychiatrie seit Ende des 19. Jahrhunderts.
In einem weiteren Kapitel erläutert Ritter, wie Psychiater mit der konstitutionellen und zivilgesetzlichen Verankerung eines Eheverbots für Geisteskranke zu Experten für Fragen der Bevölkerungs- und Sozialpolitik aufgewertet wurden. Bereits in der schweizerischen Bundes­verfassung von 1874 war Geisteskranken und Blödsinnigen die Ehe untersagt worden. Dieses Heiratsverbot wurde aller­dings weniger mit hygienischen Argumenten begründet, vielmehr war die Rechtsunfähigkeit von betroffenen Personen ausschlag­gebend. Erst im Zivilgesetzbuch von 1912 wur­den an die Stelle der tradi­tionellen Ehe­einschränkungen medizinisch-psych­iat­rische Prohibitiv­bestimmungen ein­geführt. Das Zivil­gesetzbuch definierte ein abso­lutes Eheverbot für Geisteskranke, das nicht mehr an das Krite­rium der Urteilsfähig­keit gekoppelt war. Die Ehefähigkeit konnte anhand eines psychia­trischen Gutachtens durch einen richterlichen Entscheid entzogen werden. Die Durchsetzung von Eheverboten baute somit auf eine Arbeitsteilung und Kompetenztrennung zwischen Psychiatrie und Justiz, welche die Autonomie der Psych­iater insofern wahrte, als bei der Aus­legung des Eheverbotsartikels keine genauen psychiatrischen Indikationen definiert worden waren. Über das Eheverbot hinaus beteiligten sich Psychiater an Diskussionen über die Sterilisation, Abtreibung und Kastration bei Geisteskranken, die im Kontext des seit Ende des 19. Jahrhunderts anlaufenden Prozesses der Strafrechtsvereinheitlichung statt­fanden. Dabei unterstützten sie eine Praxis von im Kontext der Anstaltspsychiatrie bereits durchgeführten Eingriffen, die individuell-medizinisch begründet wurden, gleichzeitig befürworteten sie aber auch die Einbeziehung sozialer und eugenischer Begründungen in die medizinische Indikation – diese allein erschien rechtlich zulässig. Diese Position lässt sich an den Debatten über den geplanten Abtreibungsartikel im in der Volksabstimmung von 1937 angenommenen Strafgesetz nach­vollziehen. Ritter weist darauf hin, dass eugenische Argumente ein Mittel waren, «um den Gemeinnutzen der psychiat­rischen Disziplin in einem politischen System zu unterstreichen, das im Gegensatz zum wilhelminischen Deutschland über nur schwach ausgeprägte obrigkeitsstaat­liche Strukturen verfügte». (140)
Ritter setzt sich nicht nur mit der fachinternen Diskussion, sondern auch mit der eigentlichen Begutachtungspraxis im Zusammenhang mit Eheverbot, Sterilisation und Abtreibung auseinander. Aus­gehend von der Auswertung von Krankenakten aus dem Archiv der universitären psychiatrischen Kliniken Basel weist er auf die enge Kooperation zwischen Psychiatrie und Behörden der Gesundheits- und So­zialverwaltung im Kanton Basel-Stadt hin. Die exemplarischen Fallanalysen geben Einblicke in eine psychiatrische Begutachtungspraxis, welche die Bestätigung der Ehefähigkeit von der Einwilligung in eine Sterilisation abhängig machte. Allerdings konnten sich betroffene Personen zum Teil erfolgreich gegen Eheeinspruch oder Ste­rilisationen durchsetzen. Bei den Behörden überwog das kostenpräventive Interesse an den Eingriffen. Ein weiterer interessanter Befund von Ritters Studie liegt in der Feststellung einer geschlechtsspezifischen Ausdifferenzierung von Indikationsstellungen bei Sterilisation und Kastration. So wurde etwa die Sterilisation bei Frauen vor allem aus «individuell-medizinischen» Gründen verfolgt, während bei psychopathischen Männern eugenische Beweggründe der Sterilisation im Vordergrund standen.
Der letzte Teil der Arbeit befasst sich mit Verschärfungen des eugenischen Eheverbots im schweizerischen Zivilgesetzbuch, die im Rahmen einer Familienschutzinitiative diskutiert wurden. Eugenische Motive und Ziele bildeten den Fokus vieler dieser zum Teil von Psychiatern angeregten Debatten, allerdings scheiter­ten eugenisch motivierte Vorstösse zugunsten einer Ausweitung der Eheausschluss­bestimmungen. In diesem Zusammenhang zeigt Ritter, wie Psychiater sich im Lauf des Kriegs von einer bevölkerungspoli­tischen Ausrichtung eugenischer Mass­nahmen distanzierten.
Mit seiner Dissertation präsentiert Ritter eine schlüssige und umfassende Darstellung der Wechselwirkung zwischen Psychiatrie und Eugenik. Aber er leistet noch mehr als das: Entlang seiner ausführlichen Rekonstruktion eugenischer Denk- und Handlungsmuster liefert er einen erstklassigen Beitrag zur Profes­sionalisierungsgeschichte schweizerischer Psychiatrie und gibt somit Anregungen für eine neuartige Auseinandersetzung mit der Geschichte der Psychiatrie in anderen Ländern. Dem eingeweihten Leser wird die fehlende Behandlung der Geschichte um die Entstehung des ersten Zwangssterili­sationsgesetzes von 1928 im Kanton Waadt zwar auffallen – nach ab­geschlossener Lektüre ist jedoch die Annahme naheliegend, dass es sich bei diesem Gesetzesakt um eine Ausnahme handelte, welche die Regel bestätigt.

Anne Cottebrune (Giessen) in Traverse