Eine Bewusstseinsveränderung hat stattgefunden
Die Erklärung von Bern (EvB) ist vierzig geworden. Am 10. Januar 1969 hatte sie mit der Übergabe eines Manifests und über tausend Unterschriften an Bundesrat Willy Spühler ihren ersten Auftritt. Ihre Geschichte ist auch die Geschichte des entwicklungspolitischen Aufbruchs der Schweiz, nachgezeichnet im Buch „Entwicklung heisst Befreiung“. Die Autoren Anne-Marie Holenstein, Regula Renschler und Rudolf Strahm waren am 2. April in der DEZA-Traverse zu Gast. Im Gespräch ziehen sie eine kritische Bilanz ihres Wirkens. Interview: Thomas Jenatsch
Vor 40 Jahren hat die Erklärung von Bern (EvB) 3% des Volkseinkommens für Entwicklungszusammenarbeit (EZA) gefordert. Heute unterstützt die EvB die Petition der Hilfswerke für 0,7%. Seid ihr realistischer geworden?
Anne-Marie Holenstein: Da muss ich intervenieren. Die Initianten der EvB haben nicht in erster Linie für eine Erhöhung der Entwicklungshilfe plädiert. Sie forderten, die Entwicklungshilfe müsse vor allem geistige, wirtschaftliche und soziale Strukturen verändern, die Entwicklung verhindern. Und sie versprachen: Solange die Schweiz zum Beispiel ihre Militärausgaben nicht reduziert und die Waffenausfuhr nicht strikte beschränkt, geben wir, um glaubwürdig zu sein, drei Prozent unseres Einkommens für Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik aus.
Regula Renschler: Die heutige EvB hat die Linie, die wir anfangs der 70er Jahre initiiert haben, weitergeführt. Bis heute setzt ihre Politik grundsätzlich an zwei Punkten an, die eng miteinander verknüpft sind: Strukturveränderung in unserer Gesellschaft und Bewusstseinsbildung: Es gibt keinen Fortschritt in den armen Ländern des Südens, wenn bei uns nicht Strukturen verändert werden. Damit dies auch nachhaltig ist, braucht es zweitens eine Veränderung der Mentalität.
Rudolf Strahm: Das war eine Herausforderung für die Schweizer Politik, die geprägt war vom isolationistischen Denken des zweiten Weltkriegs. Wir waren neutral und faktisch abgeschottet. Heute ist es kaum noch zu verstehen, von welch geistiger Enge die Schweizer Aussenpolitik der Nachkriegszeit geprägt war. Um diese Enge zu überwinden, brauchte es einen tiefgreifenden Umdenkensprozess.
Ist der Ausbruch aus der Enge geglückt?
Rudolf Strahm: Ja. Wir haben zwar viel nicht durchgesetzt. Aber in der Wirtschafts- und Aussenpolitik haben wir meines Erachtens schon einen Paradigmenwechsel erlebt.
Anne-Marie Holenstein: Es ist natürlich schwer nachzuweisen, was die EvB als politische Bewegung erreicht und was sich durch die globale Veränderung ergeben hat. Die globalisierte Welt nach dem Kalten Krieg hat die Schweiz gezwungen, eine andere Aussenpolitik zu betreiben.
Rudolf Strahm: Das jüngste Beispiel ist das Bankgeheimnis. Die EvB hat dies schon früh zum Thema gemacht. Dreissig Jahre lang war das deponiert und plötzlich ist innert weniger Monate mehr passiert, als in den 30 Jahren davor. Aber nicht dank uns – die Geschichte hat uns eingeholt.
Regula Renschler: Ich sehe einen grossen Fortschritt durch die Globalisierung und die neuen Medien: Über alle Kontinente hinweg ist es heute möglich, gemeinsame Aktionen zu organisieren und durchzuführen. Es gibt heute eine entwicklungspolitisch engagierte Elite, die viel breiter ist, als sie zu unserer Zeit war. Aktionsfähig ist sie auch dank den neuen Medien.
Anderseits setzt sich diese Elite gegenüber den wirklich Armen immer mehr ab. Im Vergleich zu früher liegt der Unterschied weniger zwischen Nord und Süd, sondern zwischen Oben und Unten. Dieser Graben vergrössert sich stetig.
Welches ist der grösste Erfolg, den die EvB für sich beanspruchen kann?
Anne-Marie Holenstein: Sie hat seit 1974 in der Hungeranalyse eine Pionierrolle gespielt. Ich möchte das am Beispiel Ernährung und Konsum illustrieren. Ende der 70er Jahre nahmen wir mit Konsumentenaktionen die Grossverteiler und ihre Import- und Preispolitik mit Produkten aus der Dritten Welt aufs Korn. Wir lancierten eine symbolische Aktion mit Ananas aus den Philippinen, um an diesem Beispiel zu zeigen, in welchem Kontext eine solche Ananasbüchse steht. Wir thematisierten die Diktatur des Marcos-Regime, ihre repressive Politik gegen Landarbeiterbewegungen, die Politik der Nahrungsmittelkonzerne wie Del Monte und schliesslich unsere Rolle als Konsumenten.
Ihr wart die eigentlichen Vorreiter des Fair Trade?
Anne-Marie Holenstein: Ja, wobei wir als Vorreiter breite Allianzen gebildet haben, zum Beispiel mit Schweizer Hilfswerken, die in den neunziger Jahren das Label „Max Havelaar“ gründeten.
Regula Renschler: Die EvB hat Diskussionen über Probleme lanciert, die danach von anderen aufgenommen und weitergeführt worden sind und schliesslich eine Eigendynamik entwickelt haben. Erfolgreich war unser Engagement gegen Rassismus und Ethnozentrismus. Wir sind das Thema in verschiedenen Bereichen angegangen, in der Literatur, in den Schulen, in der Lehrerausbildung, in den Medien und in der Werbung. Ich bin überzeugt, dass hier eine Bewusstseinsveränderung stattgefunden hat. Der grösste Erfolg ist denn auch, dass ein kleines Team mit sehr wenig Mitteln auf einer breiten Basis viele Themen anstossen konnte, die damals von niemandem aufgegriffen wurden und heute auf der Agenda der UNO stehen, wie beispielsweise der Frauenhandel oder der 3.Welt-Tourismus.
Anne-Marie Holenstein: Die EvB hat eine wichtige Rolle im Agenda-Setting gespielt. Sie war oft die Erste, die ein Thema auf die innen- und aussenpolitische Agenda gebracht hat und andere sind dann mitgezogen.
Rudolf Strahm: Ich möchte die Themenvielfalt unterstreichen: Die Drittwelt-Läden wurden gegründet, die noch heute als claro-Läden existieren, das EZA-Gesetz wurde geschaffen, das bis heute als gesetzliche Grundlage dient, die Fluchtgeldfrage und die Potentatengelder wurden schon damals thematisiert. Hier hatten wir vorerst einen Misserfolg, aber heute holt uns das Thema ein. Durch die Bewegung wurde das Selbstbild der Schweiz, sie würde ein kleines Herrenvolk beheimaten, das besser ist, als der Rest der Welt, in Frage gestellt. Ohne diese Bewegung gäbe es die EZA im heutigen Sinne nicht.
Anne-Marie Holenstein: Das Stichwort Bewegung müssen wir betonen: Wir waren zwar alle drei Einzelkämpfer, aber Teil dieser ganz wichtigen Bewegung in der Schweizer Zivilgesellschaft der siebziger Jahre. Es war ein unglaublicher Umbruch.
Rudolf Strahm: Aus meiner fast fünfzigjährigen aktiven Wahrnehmung der Schweizer Politik ziehe ich den Schluss, dass die Schweiz durch die Zivilgesellschaft vorangebracht worden ist. In den Bereichen aussenpolitische Öffnung, Drittwelt-Politik, Umweltpolitik und Frauenpolitik kamen die Impulse weder von den grossen Organisationen noch von gouvernamentalen Strukturen – sie sind auf das Wirken der NGO’s und der Zivilgesellschaft zurückzuführen.
Bis in die neunziger Jahre zählte die Entwicklungszusammenarbeit auf die Unterstützung sowohl von linken wie bürgerlichen Eliten. Heute wird sie vermehrt in Frage gestellt. Wo liegt das Problem?
Rudolf Strahm: Die Entwicklung im Süden ist anders verlaufen, als dass man sich dies idealistischerweise vorgestellt hat.
Regula Renschler: In den sechziger und siebziger Jahren war eine romantische Beziehung zur Dritten Welt verbreitet. Wir haben von der Dritten Welt die Erneuerung der Welt erwartet.
Anne-Marie Holenstein: … und auch des Menschen.
Regula Renschler: Genau. Der umgekehrte Rassismus, der besagte, dass jeder Schwarze gut ist, hat meiner Meinung nach verhindert, dass die Korruption, die ja schon in den 60er Jahren begann und zu der die Industrieländer das ihre beigetragen haben, von unabhängiger Seite – auch von der EvB – angeprangert wurde. Man liess dies bis hin in die neunziger Jahre zu, und daran haben wir noch heute zu nagen.
Anne-Marie Holenstein: Du meinst, dass dies eine falsche Schonung war?
Regula Renschler: Ja. Was Mobutu angestellt hat, das wusste man schon lange. Aber niemand hat das denunziert und niemand hat interveniert – weil er ein Afrikaner war und man wollte das respektieren.
Rudolf Strahm: Das Entwicklungshilfegesetz ist auf die Förderung der Ärmsten ausgerichtet. Lange Zeit wurde dies zu wenig berücksichtigt. Heute ist es wieder ein Thema. Die Leute fragen sich, ob die Hilfe wirklich den Ärmsten zu Gute kommt oder ob sie nicht auch der Eliteförderung und der Korruption dient. Deshalb ist die EZA in einer gewissen Legitimationskrise.
Wie muss Entwicklungszusammenarbeit gestaltet werden, damit sie die Glaubwürdigkeit zurückgewinnt?
Regula Renschler: Ich befürchte, dass sich die Entwicklungshilfe insofern technisiert, als dass immer weniger Leute, die in der EZA tätig sind, direkte Felderfahrung haben. Dadurch steigt die Gefahr, dass echte Verständigung zwischen den Ärmsten der Armen und uns verloren geht. Ich habe das Gefühl, dass die Afrikaner wahrscheinlich ein anderes Gesellschaftsmodell wollen in ihren Ländern.– sie verweigern sich so stark gegenüber unseren Modellen. Aber wir haben es verpasst, mit ihnen in einen wirklichen Dialog zu treten.
Zudem glaube ich, dass die Schweiz ihre Leistungen im Bereich der Menschenrechte und Demokratisierung ungenügend kommuniziert. Demokratisierung ist bei uns sehr hoch angesiedelt Wieso bringt man die Menschen in der Schweiz nicht von der Vorstellung „Entwicklungshilfe gleich Brunnenbau“ weg: Sowohl die Hilfswerke als auch die offizielle EZA haben zu wenig unternommen, um dieses Klischee zu entkräften.
Rudolf Strahm: Die DEZA muss mehr machen im Bereich Berufsbildung. Das schweizerische Berufsbildungssystem könnte dabei als Exportmodell dienen. Die Investition in die Berufsbildung erzeugt im Vergleich die höchste Wertschöpfung. Ich möchte daran erinnern, dass in der deutschsprachigen Schweiz 70% der Jugendlichen ihre Berufskarriere mit einer Berufslehre beginnen und dies ein Teil unserer wirtschaftlichen Stärke ist.
Das Buch „Entwicklung heisst Befreiung – Erinnerungen an die Pionierzeit der Erklärung von Bern“ ist 2008 im Chronos Verlag erschienen.
Die Publikation «wirft einen kritischen Blick auf zwei Jahrzehnte Schweizer Entwicklungspolitik, deren Themenfelder von damals bis heute eine grosse Aktualität aufweisen. Gleichzeitig dokumentiert das Buch das soziale und politische Klima der Schweiz zwischen 1968 und 1985 aus der persönlichen Perspektive der Autoren. Die gelungene Verknüpfung einer Organisationsgeschichte mit einem biographischen Ansatz vermittelt so ein interessantes Stück Zeitgeschichte.»
(Nuno Pereira, Renate Schär in Berner Zeitschrift für Geschichte)
Wer sich für Entwicklungspolitik und für das Verhältnis der Schweiz zur Dritten Welt interessiert, wer etwas darüber lernen will, wie Aufklärung und Bewusstseinsbildung funktioniert, muss dieses Buch unbedingt lesen. (NZZ am Sonntag)
Das gut dokumentierte Buch belegt, wie stark in den 70er-Jahren der entwicklungspolitische Diskurs, die Frauenbewegung, der Aufbruch der 68er und die Umweltschutzbewegung sich gegenseitig befruchteten und in bisweilen chaotischer Manier verstärkten. In sehr persönlichen Passagen berichten die Autoren und EvB-Pioniere auch über ihre eigene Entwicklung und Befreiung. (Tages-Anzeiger)
Ein wertvolles Stück Zeitgeschichte (WOZ)
Anschaulich berichten die Autorinnen und der Autor über EvB-Aktionen wie «Jute statt Plastik» und «Ujamaa-Kaffee». Sie analysieren auch das gewandelte Bewusstsein im Bereich der Entwicklungshilfe. Das Buch weckt nicht nur nostalgische Gefühle, sondern regt dazu an, die heutigen Beziehungen zum «Süden» neu zu überdenken. (Aufbruch, Zeitschrift für Religion und Gesellschaft)
Die drei Autoren schildern aus sehr persönlicher Sicht und anhand von Dokumenten, wie sie ihren Zielen Schritt für Schritt näher kamen. ... Das geschieht ohne Eigenlob, sondern selbstkritisch und ohne Scheu, Niederlagen und Fehlentwicklungen einzugestehen. (welt-sichten)
Wertvoll ist dieses Buch nicht nur als Dokumentation der Anfänge einer politisch wichtigen Organisation. ... Fast noch interessanter sind die Einblicke in die persönlichen Entwicklungswege der drei Leute, denen die «Erklärung von Bern» ihr frühes Profil verdankt. (Neue Wege)
Drei besonders interessante Punkte: Man kann (in diesem Buch) die Erklärung von Bern endlich mal lesen. ... Die Geschichte dürfte bei vielen LeserInnen Aha-Effekte auslösen und an eigene Erlebnisse erinnern. ... Es ist ein Kapitel Frauengeschichte. (Frauenstimme)