Studien zur Nacht neigen zur Neoromantik. Christian Casanova beweist, dass sorgfältige Quellenarbeit nächtliche Phänomene besser zu klären vermag. In seiner Dissertation untersucht er das Zürcher Nachtleben während einer Zeitspanne von über 300 Jahren. Sein Werk reiht sich in die neuere Forschung zur Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit ein. Dank der Beschränkung auf die Nacht vermag der Verfasser die Ergebnisse der Wissenschaft zu akzentuieren. In der normativen Schriftlichkeit und den Quellen zur Rechtsprechung sind die lichtlosen Stunden eine neuralgische Zeit.
Spätestens seit Hans Medicks Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte (1996) ist bekannt, wie fruchtbar mikrohistorische Untersuchungen einer Ortschaft sein können. Dem entsprechend verlässt Casanova seine engen zeitlichen und örtlichen Grenzen nicht. Im Aufbau des Buchs spiegelt sich die scharfe Trennung zwischen Tag und Nacht, zwischen Stadt und Landschaft, welche die Mentalität der Frühen Neuzeit prägte. Der Autor stützt sich auf normatives Schriftgut wie Sittenmandate, Verbotsbücher und Ratsmanuale. Die obrigkeitliche Sicht kontrastiert er mit den Protokollen der Reformationskammer und Gerichtsakten, von denen er erfahren will, «wie es in den Zürcher Gassen nachts tatsächlich zu und her ging». (18 f.) Es fragt sich allerdings, ob sich daraus «realitätsnahe Rückschlüsse» (19) ziehen lassen, wie es Casanova anstrebt. Vor dem etwas vereinfachenden Blick auf die «Differenz von Norm und Wirklichkeit» (474) – wobei Sittenmandate die Norm, die Gerichtsakten die Wirklichkeit zeigen sollen –, wäre man durch den Einbezug aktueller Schriftlichkeitsforschung gefeit gewesen. Die grossen Sozialdisziplinierungstheorien von Elias bis Foucault handelt Casanova in einem knappen Theoriekapitel ab und verwirft sie als zu undifferenziert. Er präferiert jene Forschungszweige, die eine harte Unterscheidung zwischen Obrigkeit und Untertanen ablehnen. Die disziplinierende Funktion von Familie und Nachbarschaft war entscheidender als die teils recht hilflosen Versuche der Obrigkeit.
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil, der longue durée verpflichtet, spannt sich von 1523 bis 1798. Verschiedene Aspekte der frühneuzeitlichen Stadtgesellschaft werden beleuchtet, Vorschriften wie das Mittragen von Laternen, Bemühungen um die Brandverhütung, der Kampf gegen Unfug, Diebstahl und Einbruch erläutert. Die Nacht ist rechtlich abgegrenzt, begangene Straftaten wiegen schwerer. Casanova geht auf einzelne Akteure ein, die das Gassenleben prägten, Gesellen, einheimische Jugendliche und Wirtshausbesucher, sodann die Fest- und Spielkultur der Zeit. Die Diskrepanz zwischen dem obrigkeitlichen Anspruch und dem, was die Gerichtsquellen berichten, ist beträchtlich. Die strengen Sperrstunden etwa (21 Uhr), hat man oft umgangen. Der Verfasser begründet diesen Umstand mit der Unfähigkeit, schlagkräftige Ordnungsorgane aufzubauen. Die Zürcher Nachtwache war hierfür kein geeignetes Instrument. Es herrschte allgemeine Wachtpflicht; ausgenommen waren nur Geistliche, Ratsmitglieder und die Beamten der Stadt. Die Motivation, die Mitbürger zu disziplinieren, war klein, die Nachtwächter sind oft zechend in Zunfthäusern anzutreffen. Auch die Stundenrufer waren eher geeignet, auditive Signale obrigkeitlicher Präsenz auszusenden als die Normen durchzusetzen, zumal ihr soziales Ansehen gering war. In der Frühen Neuzeit lebte man im Rhythmus des Lichttags, die Grenzen akzentuierten Glocken- und Trompetensignale, mit denen sich die Stadttore schlossen. Besonders spannend sind die Fälle, in denen Mitglieder der führenden Familien der Stadt gegen die Normen verstossen – sie zeigen die Geschmeidigkeit der rechtlichen Praxis.
Etwas unvermittelt beginnt der zweite Teil des Buchs, der von 1798 bis 1833 reicht; in diesem Jahr entschied sich der Grosse Rat, die Schanzen zu schleifen. Mit dem Einmarsch der Franzosen verändert sich der Tagesrhythmus. Die Zürcher Nacht wird nie mehr das sein, was sie war. Ausführlich behandelt der Autor die Zäsur der Helvetik und zeigt, wie man während der Restauration nicht mehr zum vorgängigen Zustand zurückkehren kann. Glanzlichter sind die Einführung der Strassenbeleuchtung und die Entwicklung von Ordnungsinstanzen im Rahmen von Kompetenzstreitigkeiten zwischen Stadt und Kanton.
Casanova zitiert ausgiebig, was die Lektüre von Nacht-Leben zum Vergnügen macht. Er wählt die Quellen nicht aus, weil sie zufällig in der Nacht spielen, sondern weil sie die Nacht erklären. Eine stupende Quellenkenntnis zeichnet die Dissertation aus. In ihr lässt sich alles zum Thema «Nacht» finden. Wer wissen will, wann und wo in Zürich der erste gusseiserne Laternenpfosten aufgestellt wurde – hier kann man es lesen. Wer glaubt, solches Wissen sei überflüssig – Christian Casanova vermag in seiner Studie vom Gegenteil zu überzeugen.