Polyvinylchlorid (PVC), der erste vollsynthetische thermoplastische Kunststoff, wurde in den 1930er Jahren von der IG Farbenindustrie AG entwickelt. Seine Herstellung und Verwendung läutete in den 1950er Jahren die massenhafte Ankunft von Plastik in Westdeutschland ein. Seit Mitte der 1960er Jahre stand PVC immer wieder als Gesundheits- und Umweltproblem in der Kritik.
Die vorliegende Studie zeichnet die wechselvolle Karriere des Kunststoffs nach. Sie beleuchtet die wissenschaftlichen und politischen Dynamiken, die zur großindustriellen PVC-Produktion führten. Sie geht ins späte 19. Jahrhundert zurück, um die Professionsmentalität der frühen Kunststoffforscher sowie die traditionellen gesellschaftlichen Zuschreibungen an Kunststoffe und Surrogate zu rekonstruieren. Die Anstrengungen der Fachleute nach 1945, sich und ihre Produkte von den Verstrickungen in die nationalsozialistische Kriegswirtschaft zu distanzieren, werden ebenso einer Analyse unterzogen wie die technisch-organisatorischen Anpassungen an einen Massenmarkt. Die integrative Funktion von Plastik für die entstehende bundesdeutsche Verbraucherdemokratie wird anhand des privaten und Öffentlichen Kunststoffgebrauchs erschlossen. Eine Fallstudie über Berufskrankheiten in der PVC-Herstellung schlägt schliesslich den Bogen in die 1970er Jahre. Die damalige Kritik an PVC zeigt einen Wandel der politischen Kultur an. Die verbraucherdemokratischen Werte standen erneut zur Debatte.
Alle Kapitel analysieren ein für Westdeutschland typisches Spannungsverhältnis: das Verhältnis von technisch-ökonomischem zu gesellschaftlich-politischem Wandel. Das Buch illustriert und reflektiert den Vorteil, diesen Zusammenhang technikhistorisch zu fassen.
Zum Zusammenhang zwischen ökonomisch-technischem und politisch-gesellschaftlichem Wandel
in der Bundesrepublik Deutschland
1. Abfärbende Eigenschaften. Deutungshorizont der Kunststoffakteure (1900–1960)
1.1 Zur semantischen Verschränkung von Technik und Modernität
1.2 PVC-Forschung und -Entwicklung der IG Farbenindustrie seit den 1930er Jahren
1.3 Modernität der Kunststoffakteure nach 1945
1.4 Abfärbende Eigenschaften. Fazit
2. Stabile Formen. Kollektive Handlungsabstimmung in der Kunststoffindustrie (1945–1960)
2.1 Entwicklung der PVC-Produktion seit 1945
2.2 In die Organisationsform investieren
2.3 Die produktionstechnische Einpassung von PVC
2.4 Stabile Formen. Fazit
3. Greifbare Versprechen. Verbraucherdemokratisches Potenzial von Kunststoffen (1945–1960)
3.1 Demokratische und ästhetische Verfasstheit der Bundesrepublik
3.2 Verbraucherdemokratie als Herausforderung
3.3 Greifbare Versprechen. Fazit
4. Skandalöse Nebenfolgen. Kritik an PVC als Staats- und Gesellschaftskritik (1965–1980)
4.1 «Der Fall Dynamit Nobel». Die lokale Deutung industrieller Gesundheitsgefahren in der PVC-Herstellung
4.2 Eindämmung und Ausweitung. Der arbeitsmedizinische Umgang mit Vinylchlorid und den Vinylchlorid-Krankheitsfällen
4.3 Von den Berufskrankheiten zum Umweltproblem
4.4 Skandalöse Nebenfolgen. Fazit
Handeln mit Dingen
Die in dieser Reihe erscheinenden Studien untersuchen technische und wissenschaftliche Entwicklungen in der Neuzeit. Sie fragen nach dem historischen Entstehungskontext und gehen der Frage nach, inwiefern verschiedene soziale Gruppen diese technischen Entwicklungen als Möglichkeit sozialen Wandels wahrgenommen, ausgehandelt und bisweilen genutzt oder vergessen haben. Der Ansatz erlaubt es, Innovationen als technisch und gesellschaftlich voraussetzungsreiche Prozesse zu verstehen und zu erklären.
«[Es] ist resümierend festzustellen, dass es sich um eine überzeugende, multiperspektivisch angelegte Arbeit handelt, die nicht nur deutlich macht, welches Potential der Kunststoff für die Entwicklung der Bundesrepublik mit sich brachte, sondern auch, welche Möglichkeiten das Thema Kunststoff für weitere historische Forschungen bietet.»
Christian Kleinschmidt, Technikgeschichte
«Neben der souverän durchgeführten, bis in Details sorgfältigen Argumentationbesticht die Studie durch eine gepflegte, an vielen Stellen pointierte Sprache. Andrea Westermann zeigt schlüssig, dass die Politisierung des Konsums kein neues Phänomen ist, auch wenn sie in früheren Zeiten nicht so explizit war wie heute. Auch deshalb ist ihr Buch ein Beitrag zu einem tieferen Verständnis unseres Umgang mit Dingen und Stoffen.»
Jens Soentgen, GAIA
«In sum, this is a fascinating, well conceived and well researched work. It deserves a wide readership.» Ray Stokes, German History
«Westermann has written a theoretically well-informed analysis of plastic as an important and even dazzling artifact in German history. […]'Plastik und politische Kultur in Westdeutschland' is worth reading, not only for historians of science and technology but also for those interested in the cultural and social history of Germany in the postwar era.»
Beat Bächli, ISIS
«Westermanns Buch beeindruckt durch die souveräne Zusammenführung wissenschafts-, politik- und konsumgeschichtlicher Ansätze sowie die Einbettung in bundesrepublikanische Forschungen.»
Martina Hessler, Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin