Zwischen Hilfe und Ohnmacht
Die Schweizer Juden während der Naziherrschaft
Es ist äusserst verdienstvoll, dass der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) dem Historiker Stefan Mächler den Auftrag gab, seine Geschichte während der Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland zu durchleuchten. Der SIG hat sich damit auf ein heikles Terrain begeben, weil die Stellung der schweizerischen Juden in jener Zeit der Bedrohung alles andere als eindeutig war. Der damalige Präsident Saly Mayer, der von 1936 bis 1943 den Gemeindebund leitete, betrachtete es als seine Hauptaufgabe, mit den schweizerischen Behörden zusammenzuarbeiten. Damit folgte er dem Beispiel jüdischer Gemeinschaften im Ausland. Mayers Ansprechpartner war der Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei und Leiter der Polizeiabteilung im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement, Heinrich Rothmund, mit dem er während seiner ganzen Amtszeit intensiven Kontakt hatte.
Zwischen Kooperation und Protest
In den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland sah sich der SIG vor immer wieder neue Aufgaben gestellt. Die entsprechenden Aktivitäten mit den schweizerischen Behörden zu koordinieren, war besonders dadurch erschwert, dass von amtlicher Seite her die Schweiz nicht als Zielland der Flüchtlinge galt, sondern nur als vorübergehendes Aufenthaltsland. Die Schweizer Behörden waren bestrebt, die Asylsuchenden so rasch wie möglich zur Weiterwanderung zu veranlassen. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war das zwar nicht der Weisheit letzter Schluss, aber doch eine einigermassen begreifliche Haltung. Mit Kriegsbeginn änderte sich das gewissermassen über Nacht radikal. Zugespitzt wurde die Lage, als nach der Niederlage Frankreichs im Sommer 1940 unser Land praktisch von den Achsenmächten Deutschland und Italien eingeschlossen war. Für die Flüchtlinge war damit der Weg ins Ausland versperrt.
Ein Tiefpunkt der Flüchtlingspolitik war der August 1942, als Bundesrat Eduard von Steiger auf Anraten von Rothmund die Grenzen für die Aufnahme der jüdischen Flüchtlinge schloss. Das löste eine wahre Protestwelle in unserem Lande aus. Mehrere führende Juden unseres Landes, wie Paul Dreyfus-de Gunzburg und Georges Brunschvig, opponierten dagegen, dass Saly Mayer in diesem entscheidenden Moment stumm blieb. Seine Gegner innerhalb des SIG warfen ihm Anpasserei gegenüber den behördlichen Erlassen vor. Den jüdischen Kreisen schlossen sich auch viele Nichtjuden an und drängten auf Rücknahme der Sperre. Der mit Nachdruck erhobene Protest hatte Erfolg. Zwar wurde die Einreisesperre für Juden formell nicht aufgehoben, aber in der Praxis weitgehend gelockert. Das führte in zahlreichen Fällen immer noch zur Rückweisung von jüdischen Asylsuchenden, die nicht selten in Deportation und Transport in die Vernichtungslager endete. Falsch hingegen ist das aber immer wieder auftauchende und zum Teil auch von Mächler angedeutete Bild einer über lange Zeit dauernden «hermetischen Abschliessung» unseres Landes gegen jüdische Flüchtlinge.
Belastung durch Fürsorge für Flüchtlinge
Das Beispiel dieser Einreisesperre ist zwar ein zentraler Abschnitt in Mächlers Buch. Darüber hinaus aber beleuchtet der Autor die sich in rascher Folge wandelnden Aspekte der von Nazideutschland vom Zaune gerissenen und sich in immer neue Variationen einer rigorosen Terrorherrschaft hineinsteigernden Rassenpolitik und ihre Auswirkungen auf die Schweiz. Die Meilensteine heissen Entrechtung, Verfolgung, Vertreibung und schliesslich Vernichtung der Juden in Deutschland. Er würdigt vor allem die Belastungen, die durch die jüdischen Flüchtlinge entstanden, weil für deren Auskommen der SIG und seine Hilfswerke selber sorgen mussten. Er beschreibt die Auswirkungen der Nürnberger Rassegesetze von 1935, dann die neue Herausforderung, die der Anschluss des benachbarten Österreich 1938 bedeutete, und das Novemberpogrom im gleichen Jahr. Nach dem Kriegsausbruch vervielfachen sich die Probleme: völlige Einschliessung der Schweiz, die angekündigte Grenzschliessung für Juden und ihre unterschiedliche, zum Teil willkürliche Anwendung. Die Befreiung der Juden aus Theresienstadt Anfang 1945 markiert den Anfang der Nachkriegszeit, die zu den alten, noch lange Zeit weiterwirkenden Problemen auch neue Fragen stellte.
Stefan Mächlers Werk «Hilfe und Ohnmacht» bietet einen Einblick in eine von Verfolgung und Terror bestimmte Zeit. Er hat das Thema mit eingehendem Quellenstudium in souveräner Art bewältigt und so einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Juden in der Schweiz geschaffen. Es ist eine nicht leicht zu verarbeitende Lektüre, die an den Leser hohe Ansprüche stellt. Das Ergebnis ist aber in jeder Beziehung wertvoll und überzeugend. Wie der Buchtitel andeutet, sah sich damals der SIG einer doppelten Herausforderung gegenüber. Auf der einen Seite war er eingespannt in angestrebte und rege getätigte Hilfe für die Verfolgten, auf der anderen Seite fühlte er mit Schrecken die Ohnmacht, dem Geschehen im Ausland tatenlos zusehen zu müssen. Es war eine verzweifelte Lage, aus der es kaum ein Entrinnen gab.
Alfred Cattani
Stefan Mächler: Hilfe und Ohnmacht. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die nationalsozialistische Verfolgung 1933-1945. Band 10 der Schriftenreihe des SIG, Chronos-Verlag, Zürich 2005. 572 S., Fr. 48.-, ¤ 32.-.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR Samstag, 20.08.2005 Nr.193 85
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der NZZ
(c) 1993-2006 Neue Zürcher Zeitung AG