Zwischen Argwohn und Angriffsplanung
Die Schweiz und der Ostblock im Kalten Krieg
Die gegenseitige Wahrnehmung der Schweiz und des kommunistischen Ostblocks war stark von den herrschenden gesellschaftlichen Ideologien geprägt. Auf östlicher Seite gebot die marxistisch-leninistische Doktrin des Klassenkampfes, die Staaten nach dem jeweiligen Stand zu kategorisieren, den sie im Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus erreicht hatten. Da musste ein Land, das sich als wenig empfänglich für totalitäres Gedankengut erwiesen hatte und geringe Aussichten für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft bot, schlecht abschneiden.
Geschätzte Neutralität
Daniel Neval legt aufgrund eingehender Archivarbeiten eine breite Untersuchung der gegenseitigen Perzeption und der Interaktion zwischen der Schweiz und Polen, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei im Zeitraum von Kriegsende bis 1968 vor und gelangt zu differenzierteren Ergebnissen. Gewiss galt die Schweiz als erzkapitalistisches Land, mithin grundsätzlich als Teil des gegnerischen Lagers. Hatte Lenin 1916 die Neutralität noch pauschal als «bourgeoisen Betrug» und «Heuchelei» bezeichnet, so glich allerdings gerade dieser Status das Negativbild der Schweiz in den fünfziger Jahren teilweise aus: Das bündnisfreie Land wurde nun als Flankenschutz in einem allfälligen europäischen Krieg wahrgenommen, und das Neutralitätskonzept schien geeignet, weitere Staaten aus der Einflusssphäre der Westmächte herauszulösen, nachdem dies 1955 im Falle Österreichs bereits gelungen war. Ihren Ausdruck fand die Hochschätzung der Neutralität in den Ostblockstaaten als Beitrag zur Ausbreitung der «Friedenszone» etwa im Rapacki-Plan von 1957. Auch die relativ guten Handelsbeziehungen der Schweiz besonders zu Polen und zur Tschechoslowakei in den ersten Nachkriegsjahren pflegte man positiv hervorzuheben.
Einengendes Feindbild
Die Doppelstellung als Staat mit westlichen Werten, jedoch einer Neutralität, die vornehmlich im östlichen Interesse lag, hätte nun - immer gemäss Neval - der Schweiz die Möglichkeit geboten, zwischen Ost und West zu vermitteln und sich etwa für ein Ende des Rüstungswettlaufs stark zu machen. Bedacht auf die Verhinderung gesellschaftlicher Reformen, hätten die Schweizer Eliten aber eine übertriebene Furcht vor dem Ostblock und seinen «Agenten» kultiviert, dabei nie die Motive des Westens kritisch hinterfragt, kurzum ein klassisches Feindbild gepflegt. Hinzugekommen sei eine immer einseitigere Solidarisierung mit dem Westen, mit der die Schweiz die Glaubwürdigkeit ihrer Neutralität jenseits des Eisernen Vorhangs verspielt habe - in fataler Weise, was die militärische Dimension betrifft.
Der Niedergang des Ansehens der Neutralität begann damit, dass sich der Bundesrat im Juli 1958 grundsätzlich für die Beschaffung von Atomwaffen aussprach. Moskau sah dadurch seine Vorschläge für ein kernwaffenfreies Mitteleuropa vereitelt und vermutete hinter dem Positionsbezug der Schweiz die «US-Imperialisten». Kritisiert wurden sodann die militärische Aufrüstung der Schweiz im Allgemeinen, die Kontakte mit westlichen Armeen und das in der Truppenordnung 61 verankerte Konzept einer beweglicheren Verteidigung im Speziellen. Schliesslich scheint das in operativen Übungen simulierte Zusammengehen mit westlichen Mächten im Grenzraum dazu beigetragen zu haben, dass die östlichen Entscheidungsträger Anfang der sechziger Jahre - irrtümlicherweise, wie wir mittlerweile wissen - annahmen, dass sich die Schweiz für den Kriegsfall mit der Nato koordiniert habe.
Provokation eines militärischen Angriffs?
Welche Folgen dies für die operative Angriffsplanung des Warschauer Paktes hatte, wird erst schemenhaft erkennbar: Um eine Attacke auf die an Bedeutung gewinnende Operationslinie Prag- Nürnberg-Basel-Dijon zu verhindern, sei gegen Ende der fünfziger Jahre die Besetzung der Nordostschweiz ins Auge gefasst und seien dafür in der Folge zusätzliche Kräfte in der Tschechoslowakei bereitgestellt worden. Neval stellt diese auf eine Einzelquelle und auf die Auswertung von Militärübungen abgestützte Vermutung den divergierenden bisherigen Vorstellungen gegenüber, die von einem «Tangentialstoss» (aufgrund von Dokumenten in der ehemaligen DDR) bis zur vollständigen Besetzung der Schweiz (gemäss einer Publikation eines in den Westen übergelaufenen tschechischen Generals) reichen. Die nicht unplausible These wird sich allerdings erst erhärten lassen, wenn einmal die Akten, insbesondere die sowjetischen, zur militärischen Operationsplanung zugänglich sind. Bis dann scheint es etwas voreilig, das Werk mit dem Satz ausklingen zu lassen: «Aufgrund der übertriebenen Militarisierung hatte die Schweizer Führung das Land . . . in die östliche Kriegsplanung hineinmanövriert.»
Verpasste Chancen?
Bemerkenswert ist natürlich auch, dass sich Neval mit dem Begriff der «übertriebenen Militarisierung» einen Dauervorwurf ausgerechnet des Ostblocks an die Schweiz zu eigen macht. Man mag über die Angemessenheit von Abwehrmassnahmen immer streiten; die Forschung hat jedenfalls klar gezeigt, dass mindestens 1961/1962 eine «objektiv» hohe Kriegsgefahr auch für Europa bestand. Der Kritik an den Auswüchsen der geistigen Landesverteidigung indessen ist sicherlich zuzustimmen: Die damalige Ausgrenzung von Intellektuellen als «Kommunisten» mutet aus heutiger Optik etwas kleinmütig an. Vertretbar ist gewiss auch die Meinung, dass die Schweiz damals einen wesentlich grösseren Handlungsspielraum für die Friedenssicherung und die Vermeidung von Spannungen in Europa gehabt hätte; fraglich hingegen, ob gerade Bern berufen gewesen wäre, den osteuropäischen Vorstössen zur Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems oder einer Neutralisierung Mitteleuropas zum Durchbruch zu verhelfen. Denn das fundamentale gegenseitige Misstrauen und die unvereinbaren Konzeptionen für Gesamtdeutschland liessen alle Rüstungskontroll-Initiativen der fünfziger Jahre im Sand verlaufen - zum Verdruss auch etwa Schwedens, das sie mit einer aktiven Neutralitätspolitik unterstützt hatte.
Neval hat die Analyse des Denkens der politischen und militärischen Behörden gekonnt in eine breite Darstellung der veröffentlichten Meinung über die Hintergründe, die Triebkräfte und den Verlauf des Kalten Krieges verwoben und dabei auch die neuere Sekundärliteratur aus den Transformationsstaaten einbezogen. Man mag das um Äquidistanz bemühte Urteil des Autors zuweilen nicht teilen - etwa wenn er schreibt, die Hände des Westens seien nach 1945 «mit Blut mindestens ebenso befleckt wie die Hände des Ostens». Durch die Aufarbeitung ungezählter Gesandtschaftsberichte über die Schweiz wird nun aber erstmals auch die interne Kommunikation unter den Amtsträgern des Ostblocks fassbar.
Mauro Mantovani
Daniel A. Neval: Mit Atombomben bis nach Moskau. Gegenseitige Wahrnehmung der Schweiz und des Ostblocks im Kalten Krieg. Chronos, Zürich 2003. 722 S., Fr. 88.-, _ 60.-.
Publiziert mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR Samstag, 06.12.2003 Nr.284 89
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