Schweizer Katholiken und die Moderne
Neuerscheinungen zu einer problematischen Beziehung
tmn. [...] In einer weiteren Fleissarbeit untersucht Marianne Leemann die Reaktion nicht nur des «Vaterlands», sondern auch der NZZ und des sozialdemokratischen «Volksrechts» auf die erstarkenden Links- und Rechtsextremismen in den Jahren des Umbruchs von 1918 bis zur vorläufigen Beruhigung 1923. Das Hauptgewicht liegt auf der Entwicklung in Russland, Deutschland, Italien und Ungarn, aber die innenpolitischen Kommentare, denen sie oft als Schablone diente, werden auch berücksichtigt. Stimmten die NZZ und das «Vaterland» in ihrer oft auch polemischen Ablehnung des Kommunismus überein, so wurde das freisinnige Blatt darob nicht blind gegenüber den rechten Gefahren und verurteilte oft zusammen mit dem «Volksrecht» die Exzesse von Faschisten, Freikorps und Nationalsozialisten, an denen das «Vaterland» kaum Anstoss nahm.
Stattdessen übernahm die konservative Zeitung bereitwillig und mit einem Hang zum Personalisieren die antisemitischen Stereotypen, mit denen deutsche Katholiken, namentlich in Bayern, gegen die «antinationalen» Sozialisten, die freimaurerische Verschwörung und namentlich die «Judäobolschewisten» polemisierten. Nur wenn italienische Irredentisten die territoriale Integrität der Schweiz in Frage stellten, protestierte das «Vaterland» in patriotischer Pose. Nach der Machtübernahme erhielt Mussolini in beiden bürgerlichen Blättern gute Noten, was das «Volksrecht» empörte, das seinerseits ab Ende 1920 zunehmend auf Distanz zur Sowjetunion ging. [...]
Marianne Leemann: Totengräber der Demokratie. Kommunisten, Faschisten und Nationalsozialisten in der Deutschschweizer Presse von 1918 bis 1923. Chronos-Verlag, Zürich 2003. 632 S., Fr. 78.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR Samstag, 27.09.2003 Nr.224 89
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