Götter, Masken und Theater
Karl Gotthilf Kachlers prächtige Diasammlung
«Ihr nackter, unverhüllter Körper liess vollendete Schönheit sehen», heisst es in dem detailreichen Manuskript, «nur dass sie mit einem zarten Seidenschal die Scham beschattete, die aber sichtbar blieb. Ein bisschen neugierig, hob der Wind bald freundlicherweise das Tuch neckisch an, so dass es zur Seite wich und die knospende Jugend sehen liess; bald drückte er es spielerisch mit seinem Hauch hin, so dass es sich eng anschmiegte und die Konturen der verführerischen Glieder andeutete.» Es sind solche Sätze aus Apuleius' «Der goldene Esel», die Rückschlüsse erlauben auf die theatralische Praxis der Antike; in diesem Fall geht es um das Erscheinen der Venus bei einer pantomimischen Darstellung des Paris-Urteils. Neben derlei literarischen Quellen, denen bisweilen der Ruf des arg Phantasievollen anhängt, und den relativ wenigen Dramentexten ist archäologisches Material von Belang. Dazu gehören besonders Masken und Ruinen von Bühnenbauten.
Folglich birgt die rund 5000 Dias umfassende Sammlung Karl Gotthilf Kachlers (1906 bis 2000) einen Schatz. Denn bei vielen Mittelmeerreisen zwischen dem Ende der fünfziger und dem Anfang der achtziger Jahre hat der Basler Theaterhistoriker und ehemalige Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur sein Augenmerk gerade auf altertümliche Gesichtsverkleidungen und Gebäude gerichtet. Eine Selektion von Abzügen publizieren nun Andreas Kotte und Martin Dreier in einem schmalen Katalog und auf einer DVD, die mehr als 1400 Abbildungen offeriert. Präsentiert sind die Masken selbst (die dem Zeitraum vom 7. vorchristlichen bis zum 4. nachchristlichen Jahrhundert entstammen), ferner Vasenbilder, Statuetten und Dekorationen mit jenen wichtigsten Requisiten klassischer Darbietungen. Lebendig werden so auch Tänze und Mythen aus dem Umfeld des orgiastischen Dionysoskultes.
Die Aufnahmen von über 240 Theatern dokumentieren einerseits die allgemein bekannten Stätten, etwa Arausio (jetzt Orange) und Epidauros, andererseits exotische Flecken in Nordafrika und Kleinasien. Man muss keine Besuche an faszinierenden Bühnenorten wie Petra (Batra), Philadelphia (Amman) oder Gerasa (Dscharasch) absolviert haben, um durch die atemraubende Flut von Kachlers Lichtbildern mitgerissen zu werden - in eine Epoche, da Spiel-Platz, sakraler Raum und öffentliche Lokalität verschmolzen. Obendrein gefällt, dass Sara Aebi und Regula Brunner im Katalog komplexe Eigenheiten und Ergänzungen der steinernen Zeugen erläutern, seien es Geleise für Maschinen, Ehrensitze, Kellergeschosse, Zeltdächer oder Vorhänge. Die exzellente Bibliografie schliesslich dient speziellen Interessen. Nach dem Paris-Urteil lässt Apuleius übrigens seine Venus, welche Juno und Minerva ausstach, vor Freude tanzen; beim Betrachten von Kachlers Dias mag manchem heute Ähnliches widerfahren.
Thomas Leuchtenmüller
Martin Dreier und Andreas Kotte (Hrsg.): Antike Theater und Masken. Eine Reise rund um das Mittelmeer. Chronos-Verlag, Zürich 2003. 133 S., 126 Abb., 1400 Abb. auf DVD; Fr. 48.00.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der NZZ
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Dienstag, 09.03.2004 Nr.57 43
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