Schrift-Kindheiten
Anna Katharina Ulrichs Buch der Kinderbücher
Der Doppeltitel von Anna Katharina Ulrichs Buch der Kinderbücher steht für einen Ansatz, der zugleich auf die erläuternde Darstellung eines komplexen Gegenstands und auf die Wahrnehmung seiner sprachlichen Eigenart abzielt. In «Das Kinderbuch als Quelle zur Geschichte der Kindheit» werden die einzelnen Aspekte zugänglich, die in den über mehr als dreissig Jahre hinweg immer wieder neu die Sache befragenden Untersuchungen (viele sind in der NZZ erschienen) beleuchtet werden. Der Begriff «Schrift- Kindheiten» dagegen meint eine Sache, die man, Begriff hin oder her, nicht in den Griff bekommt. Kindheit - infantia - ist als solche sprachlos. Was sich über sie als Lebensabschnitt sagen lässt, geht immer auch schon über sie hinweg.
Im Einzelnen geht es der Autorin um so verschiedene Dinge wie Kinderliteratur als Zeitzeichen und Darstellungen der Mutter-Kind- Dyade in kinderliterarischer und psychoanalytischer Sicht. Unter dem Titel «Poet im Lande Pestalozzis» wird nicht nur die Schweizer Kinder- und Jugendliteratur gewürdigt, sondern auch - ein in seiner Kühnheit befreiender Gedanke - das Schweizerdeutsche als Modernisierungselement in der Kinderlyrik begriffen. Wenn in «Das letzte Wort des Kindes» die Kinder selber zu Wort kommen, zeigen sich die Schrecken der jüngeren Vergangenheit unverstellt in Wort und Bild. Die typische Form des Kinderbuchs wird in «Zwei Schwestern. Zum Verhältnis von Bild und Sprache» in einem unübertrefflich subtil präzisen Text grundsätzlich betrachtet. Kinderbücher sind Lebensbücher. Die Schrift-Kindheiten spielen sich ab in einem Bereich, in dem die Welt auf dem Spiel steht. Friederike Kretzens Vorwort stimmt den Leser auf die Unerbittlichkeit der kindlichen Dinge ein, wenn es eine Reihe von elementaren Sätzen herausgreift: «War am Anfang Aufrauschen?» ist ein solcher Satz. Immer wieder taucht Anna Katharina Ulrich in den nie zu fassenden Anfang ein und gewinnt dort, in dem, was noch nicht Sprache geworden ist, den Schatten, dem ihr Sprechen seine überzeugende Körperlichkeit verdankt.
Anna Katharina Ulrich lässt auch eine Reihe von Autoritäten zu Wort kommen, die sich kaum explizit zum Kinderbuch geäussert haben: Freud, Lacan und Merleau-Ponty zum Beispiel. Auch die Dichter sprechen mit, wo es um den Abstand zwischen Fühl- und Denkbarem, zwischen der Schrift und dem Vorschriftlichen geht. Und nicht zuletzt die Kinder selbst: Es gibt für Anna Katharina Ulrich keine scharfe Trennung zwischen der Praxis als Mutter und Grossmutter und der intensiven Schulung in Theorie. Ein weites Spektrum von Erfahrungen bündelt sich in ihrem Blick zu einer Perspektive, in der sich die Sache Kinderbuch in einem überraschend erhellenden Licht zeigt. Nicht nur umfassende Auskunft hat die Leserin in den «Schrift-Kindheiten» gefunden, sondern auch die Erkundung der eigenen, der menschlichen Begründung in Sprache und Spiel.
Eleonore Frey
Anna Katharina Ulrich: Schrift-Kindheiten. Das Kinderbuch als Quelle zur Geschichte der Kindheit. Chronos-Verlag, Zürich 2002. 396 S., Fr. 38.-.
NZZ im September 2002-10-30
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Mittwoch, 25.09.2002 Nr.222 63
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