Idealisten und Kommunisten im Kalten Krieg
Jürgmeiers Schweizer «Staatsfeinde»
C. W. Den Fall der Berliner Mauer nennen zwei der sechs Hauptpersonen von Jürgmeiers «literarischer Reportage aus dem Kalten Krieg» eine Katastrophe. Mit der «realsozialistischen» Gegenwelt schien 1989 auch die Perspektive auf eine andere Gesellschaft an sich zu entschwinden. Demnach würde die Erinnerung an die Aufmerksamkeit der politischen Polizei, deren Unverhältnismässigkeit just damals ihrerseits zur staatspolitischen Affäre wurde, den Betroffenen auf der Linken zu einer - wenn auch eher nostalgischen - Selbstvergewisserung dienen. Aber nicht jede Fiche macht die Beobachteten zu «Staatsfeinden», wie sie im Titel erscheinen, und der Autor selber gesteht, dass er «nie die nötige Empörung über das staatliche Gefichel aufzubringen vermochte». Dennoch benennt er die Porträtierten etwas forciert mit aktenüblichen Abkürzungen («B.» usw.) und zitiert immer wieder die (übrigens in den Fakten meist zutreffenden) Observationen des Staatsschutzes, um die Menschen und ihre Motive, wie sie sich in seinen biographischen Gesprächen präsentieren, im Kontrast umso persönlicher hervortreten zu lassen. Wohl deshalb erhält auch Normal-Familiäres einigen Raum und bleibt das Politische fragmentarisch. Wenn das Arrangement und die Mischgattung mitsamt der selbstreflexiven Rahmenerzählung «SchwarzundWeiss» Fragen hinterlassen mögen, verfolgt man doch fasziniert und oft überrascht, wie sich die Lebensläufe entwickeln, wie Ideale und Engagements, Fehlgläubigkeiten und Schwächen plastisch werden.
Persönliche Profile
Jürgmeier unternimmt gewissermassen eine Synopse von Lebensgeschichten und portioniert sie nach chronologischen Abschnitten vom Kriegsende über den Spätstalinismus, die Ungarnkrise und den Mauerbau bis zur 68er Bewegung mit ihren Auffächerungen und schliesslich zur Auflösung des Ost-West-Konflikts. Die Handelnden haben je eine starke Individualität. Hansjörg Braunschweig (1930-1999) war Pazifist auf religiös-sozialer Grundlage, Nationalrat, als Präsident der Zürcher SP eine enttäuschte Hoffnung des neulinken Flügels, «revolutionsuntauglich», wirkungsvoll nicht zuletzt sozial, in seinem Beruf als Amtsvormund. Victor Schiwoff (geboren 1924), Gewerkschafter, überzeugter Kommunist, zeitweise - ein «Doppelleben» - SP-Mitglied, hat den Bonus eines Objekts von übermarchendem Antikommunismus: Nach der Niederschlagung des Aufstands in Budapest wurde er wegen eines 1952 für die ungarische Botschaft verfassten Traktats in ein Strafverfahren gezogen (und nach zwei Jahren zu einem Monat bedingter Haft verurteilt) und aus dem VPOD ausgeschlossen; die Wiederanstellung kostete den Verbandschef Max Arnold 1971 das Nationalratsmandat.
Emilio Modena, 1941 in Italien geboren, Arzt und Psychoanalytiker, ist wohl der Militanteste der Porträtierten. Unter anderem beansprucht er eine führende Rolle im Vorfeld des Zürcher Globuskrawalls von 1968 (er habe Thomas Held «aufgebaut und dann wieder abgebaut»). Nach Misserfolgen, Krisen - und Kritik an der «ökonomistischen Politik», an der Ideologie eines «allgemeingültigen Glücks» - denkt er 2001 erneut an die Gründung einer revolutionären Organisation. Ein ganz anderer Mensch: Leni Altwegg (1924), Pfarrerin, politisch nach eigenen Worten «en naive Tschumpel», eingenommen von christlichem Engagement gegen die Apartheid, intensiv befreundet mit Chief Gatsha Buthelezi, später vom Machtpolitiker entfremdet, was Südafrika betrifft, am Ende an sich auf der Gewinnerseite. Anjuska und Jochi Weil schliesslich (1946 beziehungsweise 1942 geboren) sind ein irritierendes Paar: die gegen vieles resistente PdA-Politikerin (zwölf Jahre Sekretärin der Zürcher Partei, acht Jahre Kantonsrätin) und der verletzliche, immer wieder in ein Dilemma geratende Lehrer, Strafreformer, Sozialarbeiter und Sekretär der Centrale Sanitaire Suisse, der sich für den vietnamesischen Kriegsgeneral Giap eine Krawatte umbindet und aufreibende Kleinarbeit für eine israelisch-palästinensische Versöhnung leistet.
Einsichten und Fronten
Der «Berichterstatter», wie sich der Schriftsteller bezeichnet, stellt seinen Gesprächspartnern durchaus auch kritische Fragen; die Antworten sind eher selten ausdrücklich selbstkritisch (Leni Altwegg gibt zu, auf dem linken Auge blind gewesen zu sein), oft nichtsdestoweniger aufschlussreich. - Der sozialistische Totalitarismus war für Hunderte von Millionen keine Theorie, seine Propagierung oder Beschönigung war auch in einem Land wie der Schweiz zu bekämpfen - was nicht heisst, Anhänger pauschal und bis in die private Existenz hinein zu ächten. Am Kalten Krieg ist wohl beidseits noch einiges «aufzuarbeiten». Ein Aufruf zum Hass des kommunistischen «Gesindels» ist kein bloss «sprachästhetisches» Problem, wie es Helmut Hubacher 40 Jahre später meint, und der Sowjetkommunismus lässt sich nicht einfach nach dem angeblichen Ziel des «Humanismus» (Schiwoff) beurteilen.
Jürgmeier: Staatsfeinde oder SchwarzundWeiss. Eine literarische Reportage aus dem Kalten Krieg. Chronos-Verlag, Zürich 2002. 274 S., Fr. 38.-, _ 25.90.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR Samstag, 31.08.2002 Nr.201 103
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