Zwischen Wohlfahrt und Staatsökonomie
Armenfürsorge auf der bernischen Landschaft im 18. Jahrhundert
Gebunden
2002. 432 Seiten
ISBN 978-3-0340-0530-2
CHF 68.00 / EUR 46.90 
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«Nicht ein verschwenderisches und achtloses Dahingeben, sondern eine nachdenkende und sorgsame Economie ist die Nährmutter einer rühmlichen Beneficentz und Freygebigkeit.»
Als sich die Almosenkammer Mitte des 18. Jahrhundert mit diesen mahnenden Worten an die Landvögte der bernischen Landschaft wandte, lagen bereits 80 Jahre intensiver Bemühungen zur Organisation und lückenloser Durchsetzung einer geregelten Armenfürsorge auf dem gesamten Territorium Berns hinter ihr. 1672 war sie als eine der ersten Verwaltungskammern des bernischen Staates nach kameralistischem Vorbild ins Leben gerufen worden. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, anhand einer raffinierten Anreizpolitik die Gemeinden zur Einführung einer regelmässigen, schriftlich verwalteten und mit Einnahmen aus Armensteuern abgesicherten Armenfürsorge zu bewegen. Dies wollte die Almosenkammer erreichen, indem sie staatliche Unterstützungsleistungen nur an diejenigen bedürftigen Haushalte bewilligte, deren Heimatgemeinde der von ihr gesetzlich verlangten Unterstützungspflicht nachkam.
Die Arbeit von Erika Flückiger zeigt auf, wie sich im 18. Jahrhundert ­ entgegen der Bemühungen der Obrigkeit eine geregelte Armenhilfe auf Gemeindeebene durchzusetzen ­ die Zahl der bedürftigen Haushalte, die mit staatlichen Leistungen unterstützt werden mussten, auf bernischem Territorium vervielfachte. Besonders nach der Versorgungskrise von 1770/71 kündete die starke Zunahme des Unterstützungsbedarfs auch das Auftauchen einer neuen Klientel, der «Labouring Poor» an, womit eine Entwicklung einsetzte, die in den Pauperismus des 19. Jahrhunderts mündete. Angesichts der zunehmenden Belastung des Staatshaushalts mit Sozialausgaben sah sich die bernische Obrigkeit zusehends mit dem Dilemma zwischen Wohlfahrt und Staatsökonomie konfrontiert.
Besprechungen
Frühe «working poor» lx. Nicht erst das moderne Sozialwesen kennt die Debatte um die Grenzen der öffentlichen Fürsorge. In ihrer Dissertation hat die Berner Historikerin Erika Flückiger Strebel die bernische Armenfürsorge des 18. Jahrhunderts untersucht. Schon da lässt sich das Spannungsfeld zwischen Wohlfahrts- und Staatsökonomie anschaulich verfolgen, noch mehr: Beide Begriffe ­ Staatsökonomie contra Wohlfahrt ­ sind schon zu jener Zeit Schlüsselbegriffe der kameralistischen Theorie, die das staatliche Handeln geprägt haben. Im Mittelpunkt der Analyse stehen die Tätigkeiten der Berner Almosenkammer, die ab 1672 für die Koordination der staatlichen Armenfürsorge zuständig war. Die Datenbasis der Arbeit beruht auf zwei Querschnittsanalysen der staatlichen Armenfürsorgeausgaben in den 1730er und den 1780er Jahren. Die Autorin kann aufzeigen, dass sich im Laufe des Jahrhunderts die Klientel der staatlichen Armenfürsorge in auffallender Weise verändert hat: Zu der traditionell als unterstützungswürdig angesehenen Armut ­ Alte, Kranke und Behinderte ­ gesellten sich in zunehmendem Mass intakte Familien, deren Erwerbseinkünfte offensichtlich nicht mehr existenzsichernd waren. Dies, so resümiert die Autorin, lasse darauf schliessen, dass die «neue Armut» im Sinne der heutigen working poor bereits im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung. Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Samstag, 21.12.2002 Nr. 297 60