Frühe «working poor»
lx. Nicht erst das moderne Sozialwesen kennt die Debatte um die Grenzen der öffentlichen Fürsorge. In ihrer Dissertation hat die Berner Historikerin Erika Flückiger Strebel die bernische Armenfürsorge des 18. Jahrhunderts untersucht. Schon da lässt sich das Spannungsfeld zwischen Wohlfahrts- und Staatsökonomie anschaulich verfolgen, noch mehr: Beide Begriffe Staatsökonomie contra Wohlfahrt sind schon zu jener Zeit Schlüsselbegriffe der kameralistischen Theorie, die das staatliche Handeln geprägt haben. Im Mittelpunkt der Analyse stehen die Tätigkeiten der Berner Almosenkammer, die ab 1672 für die Koordination der staatlichen Armenfürsorge zuständig war. Die Datenbasis der Arbeit beruht auf zwei Querschnittsanalysen der staatlichen Armenfürsorgeausgaben in den 1730er und den 1780er Jahren. Die Autorin kann aufzeigen, dass sich im Laufe des Jahrhunderts die Klientel der staatlichen Armenfürsorge in auffallender Weise verändert hat: Zu der traditionell als unterstützungswürdig angesehenen Armut Alte, Kranke und Behinderte gesellten sich in zunehmendem Mass intakte Familien, deren Erwerbseinkünfte offensichtlich nicht mehr existenzsichernd waren. Dies, so resümiert die Autorin, lasse darauf schliessen, dass die «neue Armut» im Sinne der heutigen working poor bereits im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts ihren Anfang nahm.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Samstag, 21.12.2002 Nr. 297 60