Radikalisierung einer Jugendorganisation
Die sozialistische Jugendbewegung der Schweiz 1900-1930
Mancher Zeitzeuge der gewalttätigen Proteste aufbegehrender Studenten und
Jugendlicher ab 1968 oder 1980 hätte damals wohl gerne das Rad der Zeit um
Jahrzehnte rückwärts gedreht, zurück in eine heile Welt, in der sich
Jugendliche noch anständig und angepasst verhielten. Wer zu Andreas
Petersens Dissertation greift, wird ein voreiliges Pauschalurteil über die
frühere Jugend revidieren müssen. Am Beispiel der Schweizer
Arbeiterjugendbewegung - zwischen der Gründung 1900 und der Umbenennung in
«Kommunistische Jugend» 1921 - untersucht der Autor Ursachen und Bedingungen
für die Radikalisierung, die innerhalb weniger Jahre aus einer politisch
neutralen Konfirmandengruppe die linksradikale Speerspitze der
einheimischen Arbeiterbewegung werden liess. Anfänglich «Jungburschen»,
später «Freie Jugend» und schliesslich offiziell die «Sozialdemokratische
Jugendorganisation der Schweiz» genannt, wuchs eine Bewegung heran, die auf
ihrem Höhepunkt 1916/1917 rund 3000 Mitglieder umfasste, etwa drei Prozent
der erwerbstätigen und zehn Prozent der damals organisierten Jugendlichen.
Eine Zeit sozialer Kämpfe
Die Schweiz durchlief in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
gesellschaftliche Umbrüche und einen rasanten Wirtschaftswandel. Von 1900
bis 1914 stieg der Anteil der in der Industrie Beschäftigten von etwa einem
Drittel auf die Hälfte. Die Binnenwanderung beschleunigte die
Verstädterung. In den Industriezentren des Mittellandes entwickelte sich
eine proletarische Kultur. Der Vorabend des Ersten Weltkriegs war
spannungsreich: Arbeitskonflikte mit Aussperrungen und Streiks gehörten zum
Alltag und wurden teilweise gewaltsam ausgetragen, der Einsatz von Polizei
und Militär gegen Streikende war nicht selten. Das Bürgertum -
Unternehmer, Bauern, Gewerbetreibende - sah sich von den Linken bedroht,
zumal sich Teile der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratischen Partei
zum marxistischen Klassenkampf bekannten. Die Fortdauer des Krieges führte
zu einer ungenügenden Lebensmittelversorgung, zu Inflation,
Verdienstausfällen, grosser Not und zu einer Verminderung des
Arbeiterschutzes. Das begünstigte den Aufschwung der Sozialdemokratie und
die Sehnsucht nach einem Umsturz. Revolutionäre und bolschewistische
Strömungen machten sich bemerkbar und gipfelten im - schliesslich
niedergeschlagenen - Generalstreik vom November 1918.
Wie erlebten und gestalteten Jugendliche jene Epoche mit? Petersen schildert
drei Phasen. 1900 formierte sich um den protestantischen Arbeiterpfarrer
Paul Pflüger im Zürcher Arbeiter- und Industriequartier Aussersihl - einem
Kerngebiet der Arbeiterbewegung, wo zahlreiche Protestaktionen ihren
Ausgangspunkt hatten - eine Gruppe von Sekundarschülern als Kern der
sozialistischen Jugendbewegung, die sich «Jungburschen» nannten. Zunächst
kann man darin eine Art Selbsthilfeorganisation sehen. Die Bildungsangebote
für Lehrlinge und junge Fabrikarbeiter dienten der persönlichen
Selbstentfaltung und sollten den sozialen Aufstieg ermöglichen. Ebenso
pflegte man milieuspezifische Geselligkeit und Freizeitaktivität: Ausflüge,
Wanderungen, Feste, eigene Theateraufführungen, Vortrags- und
Diskussionsabende sollten Zerstreuung und Nestwärme zugleich bieten.
Jugendliche Aufmüpfigkeit blieb in dieser «jugendpflegerischen» oder
reformerischen Phase (Petersen) im Hintergrund.
Im «jugendbewegten» oder anarchistischen Abschnitt von etwa 1906 bis 1914
griff die sozialistische Jugendbewegung über Aussersihl und Zürich hinaus
und wurde zu einer landesweiten Organisation. Junge Frauen konnten erstmals
an den Gemeinschaftsanlässen der Jünglinge teilhaben - was vielerorts
Missbehagen hervorrief. In einer Zeit des Fortschrittsoptimismus wurde nun
Kritik an der Gesellschaft, aber auch an der SP und den Gewerkschaften
artikuliert. Viele «Jungburschen» beteiligten sich aktiv am
Streikgeschehen, an gewalttätigen Demonstrationen und Schlägereien mit
Streikbrechern, besonders 1906 und anlässlich des Zürcher Generalstreiks von
1912. Sie erlebten hautnah, wie Soldaten fliehende Arbeiter verfolgten,
Aktivisten verhaftet wurden und Streikende umgehend ihre Stelle verloren.
Einfluss von Krieg und Revolution
Die dritte, «politische» oder bolschewistische Phase von 1914 bis 1921 war
geprägt durch Krieg und soziale Not. Vor dem Hintergrund der drückenden
wirtschaftlichen Lage und der stark empfundenen sozialen Ungleichheit galt
das politische und wirtschaftliche System der Schweiz als ungerecht und
sollte beseitigt werden. In dieser Epoche prägten zwei gegensätzliche
ideologische Strömungen die Jugendbewegung, zunächst der religiöse
Sozialismus des Zürcher Theologieprofessors Leonhard Ragaz, ab 1915
schliesslich der Bolschewismus unter dem Einfluss des kühl berechnenden
Berufsrevolutionärs Lenin. Wurde zu Beginn des Weltkriegs noch Pazifismus
und Antimilitarismus propagiert, so wurden nun Klassenkampf und Revolution
aufs Banner geschrieben, der Waffengebrauch zur Beseitigung der Bourgeoise
gutgeheissen. Die zunehmende Radikalisierung bewog zahlreiche Mitglieder
zum Austritt. Die Verbliebenen traten der «Kommunistischen
Jugendinternationale» bei und nannten sich «Kommunistischer Jugendverband
Schweiz». Sie ordneten sich der nach dem Krieg gegründeten Kommunistischen
Partei der Schweiz unter und segelten im Fahrwasser Moskaus und der
Kommunistischen Internationale (Komintern). Erst Mitte der zwanziger Jahre
kam wieder eine übergreifende sozialdemokratische Jugendorganisation
zustande.
Faktor des Antimilitarismus in der SP
Wie heute noch manche Jugendbewegung strebte damals die sozialistische
Jugend nach Autonomie und Unabhängigkeit von den Erwachsenen - und wurde
doch mehr oder weniger subtil von diesen beeinflusst und gelenkt. Geistiger
Mentor in der Frühzeit war der Zürcher Arzt Fritz Brupbacher mit seinem
linksradikalen, anarchistischen und revolutionären Gedankengut. Der junge
Deutsche Willy Münzenberg, ein begeisterungsfähiger Motivator und ein
Organisationstalent, machte ab 1914 die Jugendgruppen, die vornehmlich
Diskussionszirkel gewesen waren, zur Tausende von Mitgliedern zählenden
Sozialistischen Jugendorganisation. Nach Krawallen in Zürich 1918 wurde er
aus der Schweiz ausgewiesen. Nicht zu vergessen sind schliesslich Ragaz und
Lenin. Die Protektion durch Erwachsene war entscheidend. Radikale politische
Einstellungen liessen sich auf die Dauer nur mit deren Unterstützung
behaupten. Internationale Kontakte und insbesondere die Hinwendung zum
Klassenkampf förderten die Radikalisierung zusätzlich.
Ambivalent war das Verhältnis zur SP und den Gewerkschaften. Anfänglich nahm
man dort die Jugendlichen kaum zur Kenntnis; die «Alten» grenzten sich von
ihnen ab, schauten auf sie herab. Das änderte sich, als man ab 1910
Jugendpflege als Faktor langfristiger Politik zu begreifen begann. Bald sah
sich die Jugend selbst als Avantgarde der Sozialdemokratie und der
Arbeiterbewegung. Am Militärparteitag von 1917 griff sie entscheidend in die
Geschicke der SP ein. Unter starkem Agitieren der Jugendlichen wurde die
Ablehnung von Armee und Landesverteidigung beschlossen, nachdem sich die
Partei zu Beginn des Krieges mit ihrer Bejahung der nationalen Verteidigung
noch gegen ihre antimilitaristische Jugend gestellt hatte.
Petersen bettet seine historische Untersuchung in die Diskussion
sozialwissenschaftlicher Generationen- und Jugendtheorien ein und richtet
seinen Blick vornehmlich auf die Deutschschweiz, speziell auf Zürich.
Systematisch und faktenreich präsentiert er in seinem umfangreichen Werk die
Entwicklung der Jugendorganisationen - auch der nichtsozialistischen. Die
akribische Darstellung ist Vorzug und Nachteil zugleich. Schnell kann man
die grossen Linien aus den Augen verlieren; hier wären umfassendere Résumés
hilfreich. Andererseits verleiht gerade die reichhaltige und sorgfältig
aufgearbeitete Fülle an biographischem Material dem Werk den Charakter eines
«Who's who?» der Schweizer Arbeiterbewegung. Einen Gewinn bringt Petersens
Untersuchung aber auch all jenen, die generell Einblicke in Dynamik und
Eigenleben einer Jugendbewegung erlangen möchten.
Ernst Baumeler
Andreas Petersen: Radikale Jugend. Die sozialistische Jugendbewegung der
Schweiz 1900-1930. Radikalisierungsanalyse und Generationentheorie.
Chronos-Verlag, Zürich 2001. 639 S., Fr. 68.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 27.09.2001 Nr. 224 61