Radikale Jugend
Die sozialistische Jugendbewegung der Schweiz 1900–1930
Eine Studie zur Radikalisierung der Jugend
Gebunden
2001. 554 Seiten, 60 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-0510-4
CHF 68.00 / EUR 42.50 
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Beeinflusst von Lenin, Fritz Brupbacher und Leonhard Ragaz, verantwortlich für die «panikartige Angst, die sich des Bürgertums am Ende des Weltkrieges bemächtigte» (Gruner), organisatorische Hauptträgerin der revolutionären Stimmung zu Zeiten des Generalstreiks 1918, glühende Anhängerschaft der Moskauer Internationale und Kernbestand der neuen Kommunistischen Partei der Schweiz - das war die sozialistische Jugend, zuerst «Jungburschen», später «Freie Jugend» und schliesslich «Sozialdemokratische Jugendorganisation der Schweiz» genannt. Sie war aber auch eine Jugendbewegung mit Wanderungen, Ausflügen, Tanz und Spiel, Besichtigungen, Theater- und Vortragsabenden, Aufmärschen und Grossveranstaltungen. Ihren Mitgliedern bot die Bewegung Gemeinschaft, Identität, gar einen Lebenssinn und prägte sie oft lebenslang. Viele wurden später wichtige Partei- und Kominternfunktionäre, wie zum Beispiel Willy Münzenberg.
Ausführlich stellt der Autor die unterschiedlichen Facetten dieser Jugendbewegung dar und fragt nach der Faszination der Bewegung für ihre Mitglieder. Er untersucht systematisch den Radikalisierungsprozess und erstellt einen ausdifferenzierten Faktorenkatalog, mit dem sich Radikalisierungsphänomene von Jugendgruppen untersuchen lassen. Zur Beantwortung der Frage, ob Jugendradikalität eine Generationenfrage ist, werden die sozialwissenschaftliche Diskussion über die Generationentheorie umfassend aufgearbeitet und die wichtigsten Jugendgruppen der damaligen Zeit mit der sozialistischen Jugend verglichen, die damit erstmals umfassend analysiert wird.
Besprechungen
Radikalisierung einer Jugendorganisation Die sozialistische Jugendbewegung der Schweiz 1900-1930 Mancher Zeitzeuge der gewalttätigen Proteste aufbegehrender Studenten und Jugendlicher ab 1968 oder 1980 hätte damals wohl gerne das Rad der Zeit um Jahrzehnte rückwärts gedreht, zurück in eine heile Welt, in der sich Jugendliche noch anständig und angepasst verhielten. Wer zu Andreas Petersens Dissertation greift, wird ein voreiliges Pauschalurteil über die frühere Jugend revidieren müssen. Am Beispiel der Schweizer Arbeiterjugendbewegung - zwischen der Gründung 1900 und der Umbenennung in «Kommunistische Jugend» 1921 - untersucht der Autor Ursachen und Bedingungen für die Radikalisierung, die innerhalb weniger Jahre aus einer politisch neutralen Konfirmandengruppe die linksradikale Speerspitze der einheimischen Arbeiterbewegung werden liess. Anfänglich «Jungburschen», später «Freie Jugend» und schliesslich offiziell die «Sozialdemokratische Jugendorganisation der Schweiz» genannt, wuchs eine Bewegung heran, die auf ihrem Höhepunkt 1916/1917 rund 3000 Mitglieder umfasste, etwa drei Prozent der erwerbstätigen und zehn Prozent der damals organisierten Jugendlichen. Eine Zeit sozialer Kämpfe Die Schweiz durchlief in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gesellschaftliche Umbrüche und einen rasanten Wirtschaftswandel. Von 1900 bis 1914 stieg der Anteil der in der Industrie Beschäftigten von etwa einem Drittel auf die Hälfte. Die Binnenwanderung beschleunigte die Verstädterung. In den Industriezentren des Mittellandes entwickelte sich eine proletarische Kultur. Der Vorabend des Ersten Weltkriegs war spannungsreich: Arbeitskonflikte mit Aussperrungen und Streiks gehörten zum Alltag und wurden teilweise gewaltsam ausgetragen, der Einsatz von Polizei und Militär gegen Streikende war nicht selten. Das Bürgertum - Unternehmer, Bauern, Gewerbetreibende - sah sich von den Linken bedroht, zumal sich Teile der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratischen Partei zum marxistischen Klassenkampf bekannten. Die Fortdauer des Krieges führte zu einer ungenügenden Lebensmittelversorgung, zu Inflation, Verdienstausfällen, grosser Not und zu einer Verminderung des Arbeiterschutzes. Das begünstigte den Aufschwung der Sozialdemokratie und die Sehnsucht nach einem Umsturz. Revolutionäre und bolschewistische Strömungen machten sich bemerkbar und gipfelten im - schliesslich niedergeschlagenen - Generalstreik vom November 1918. Wie erlebten und gestalteten Jugendliche jene Epoche mit? Petersen schildert drei Phasen. 1900 formierte sich um den protestantischen Arbeiterpfarrer Paul Pflüger im Zürcher Arbeiter- und Industriequartier Aussersihl - einem Kerngebiet der Arbeiterbewegung, wo zahlreiche Protestaktionen ihren Ausgangspunkt hatten - eine Gruppe von Sekundarschülern als Kern der sozialistischen Jugendbewegung, die sich «Jungburschen» nannten. Zunächst kann man darin eine Art Selbsthilfeorganisation sehen. Die Bildungsangebote für Lehrlinge und junge Fabrikarbeiter dienten der persönlichen Selbstentfaltung und sollten den sozialen Aufstieg ermöglichen. Ebenso pflegte man milieuspezifische Geselligkeit und Freizeitaktivität: Ausflüge, Wanderungen, Feste, eigene Theateraufführungen, Vortrags- und Diskussionsabende sollten Zerstreuung und Nestwärme zugleich bieten. Jugendliche Aufmüpfigkeit blieb in dieser «jugendpflegerischen» oder reformerischen Phase (Petersen) im Hintergrund. Im «jugendbewegten» oder anarchistischen Abschnitt von etwa 1906 bis 1914 griff die sozialistische Jugendbewegung über Aussersihl und Zürich hinaus und wurde zu einer landesweiten Organisation. Junge Frauen konnten erstmals an den Gemeinschaftsanlässen der Jünglinge teilhaben - was vielerorts Missbehagen hervorrief. In einer Zeit des Fortschrittsoptimismus wurde nun Kritik an der Gesellschaft, aber auch an der SP und den Gewerkschaften artikuliert. Viele «Jungburschen» beteiligten sich aktiv am Streikgeschehen, an gewalttätigen Demonstrationen und Schlägereien mit Streikbrechern, besonders 1906 und anlässlich des Zürcher Generalstreiks von 1912. Sie erlebten hautnah, wie Soldaten fliehende Arbeiter verfolgten, Aktivisten verhaftet wurden und Streikende umgehend ihre Stelle verloren. Einfluss von Krieg und Revolution Die dritte, «politische» oder bolschewistische Phase von 1914 bis 1921 war geprägt durch Krieg und soziale Not. Vor dem Hintergrund der drückenden wirtschaftlichen Lage und der stark empfundenen sozialen Ungleichheit galt das politische und wirtschaftliche System der Schweiz als ungerecht und sollte beseitigt werden. In dieser Epoche prägten zwei gegensätzliche ideologische Strömungen die Jugendbewegung, zunächst der religiöse Sozialismus des Zürcher Theologieprofessors Leonhard Ragaz, ab 1915 schliesslich der Bolschewismus unter dem Einfluss des kühl berechnenden Berufsrevolutionärs Lenin. Wurde zu Beginn des Weltkriegs noch Pazifismus und Antimilitarismus propagiert, so wurden nun Klassenkampf und Revolution aufs Banner geschrieben, der Waffengebrauch zur Beseitigung der Bourgeoise gutgeheissen. Die zunehmende Radikalisierung bewog zahlreiche Mitglieder zum Austritt. Die Verbliebenen traten der «Kommunistischen Jugendinternationale» bei und nannten sich «Kommunistischer Jugendverband Schweiz». Sie ordneten sich der nach dem Krieg gegründeten Kommunistischen Partei der Schweiz unter und segelten im Fahrwasser Moskaus und der Kommunistischen Internationale (Komintern). Erst Mitte der zwanziger Jahre kam wieder eine übergreifende sozialdemokratische Jugendorganisation zustande. Faktor des Antimilitarismus in der SP Wie heute noch manche Jugendbewegung strebte damals die sozialistische Jugend nach Autonomie und Unabhängigkeit von den Erwachsenen - und wurde doch mehr oder weniger subtil von diesen beeinflusst und gelenkt. Geistiger Mentor in der Frühzeit war der Zürcher Arzt Fritz Brupbacher mit seinem linksradikalen, anarchistischen und revolutionären Gedankengut. Der junge Deutsche Willy Münzenberg, ein begeisterungsfähiger Motivator und ein Organisationstalent, machte ab 1914 die Jugendgruppen, die vornehmlich Diskussionszirkel gewesen waren, zur Tausende von Mitgliedern zählenden Sozialistischen Jugendorganisation. Nach Krawallen in Zürich 1918 wurde er aus der Schweiz ausgewiesen. Nicht zu vergessen sind schliesslich Ragaz und Lenin. Die Protektion durch Erwachsene war entscheidend. Radikale politische Einstellungen liessen sich auf die Dauer nur mit deren Unterstützung behaupten. Internationale Kontakte und insbesondere die Hinwendung zum Klassenkampf förderten die Radikalisierung zusätzlich. Ambivalent war das Verhältnis zur SP und den Gewerkschaften. Anfänglich nahm man dort die Jugendlichen kaum zur Kenntnis; die «Alten» grenzten sich von ihnen ab, schauten auf sie herab. Das änderte sich, als man ab 1910 Jugendpflege als Faktor langfristiger Politik zu begreifen begann. Bald sah sich die Jugend selbst als Avantgarde der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung. Am Militärparteitag von 1917 griff sie entscheidend in die Geschicke der SP ein. Unter starkem Agitieren der Jugendlichen wurde die Ablehnung von Armee und Landesverteidigung beschlossen, nachdem sich die Partei zu Beginn des Krieges mit ihrer Bejahung der nationalen Verteidigung noch gegen ihre antimilitaristische Jugend gestellt hatte. Petersen bettet seine historische Untersuchung in die Diskussion sozialwissenschaftlicher Generationen- und Jugendtheorien ein und richtet seinen Blick vornehmlich auf die Deutschschweiz, speziell auf Zürich. Systematisch und faktenreich präsentiert er in seinem umfangreichen Werk die Entwicklung der Jugendorganisationen - auch der nichtsozialistischen. Die akribische Darstellung ist Vorzug und Nachteil zugleich. Schnell kann man die grossen Linien aus den Augen verlieren; hier wären umfassendere Résumés hilfreich. Andererseits verleiht gerade die reichhaltige und sorgfältig aufgearbeitete Fülle an biographischem Material dem Werk den Charakter eines «Who's who?» der Schweizer Arbeiterbewegung. Einen Gewinn bringt Petersens Untersuchung aber auch all jenen, die generell Einblicke in Dynamik und Eigenleben einer Jugendbewegung erlangen möchten. Ernst Baumeler Andreas Petersen: Radikale Jugend. Die sozialistische Jugendbewegung der Schweiz 1900-1930. Radikalisierungsanalyse und Generationentheorie. Chronos-Verlag, Zürich 2001. 639 S., Fr. 68.-. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 27.09.2001 Nr. 224 61