Zähmung der Masken, Wahrung der Gesichter

Theater und Theatralität in Solothurn 1700–1798

Theatrum Helveticum, Band 7
Gebunden
2000. 620 Seiten, 10 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-905314-11-3
CHF 68.00 / EUR 62.00 
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Es wird, wie in allen Orten, wo grosse Lebensart und Schauspiele sind, aus Tag Nacht und aus Nacht Tag gemacht werden, die Industrie wird sich verlieren und der so gerühmte Flor Zürichs bald einem Luzern und Solothurn gleich sein.»
So warnten 1780 Zürcher Bürger vor den Folgen einer liberalen Bewilligungspraxis gegenüber wandernden Komödiantentruppen. Reformierte oder kulturkritische Ablehnung der Schauspiele prägt bis heute das Bild vom schweizerischen Theater des 18. Jahrhunderts, das nun durch eine Studie zur Stadt Solothurn erschüttert wird.
Dargestellt wird jenes aus Zürcher Perspektive katholische Theater-Babel, wo mit Philippe Néricault Destouches einer der meistgespielten Autoren des 18. Jahrhunderts im Haus des französischen Botschafters debutierte und Giacomo Casanova der angebeteten Baronin von Roll in Voltaires «Belle Ecossaise» seine Liebe offenbarte. Wo die Jesuiten mit der Frühlingskomödie «Das römische Narrendorf» ungewollt einen Theaterskandal auslösten oder in einem Umzug «Das triumphierende Solothurn» durch die Gassen führten. Wo mit einem Ritus Engerlinge vertrieben wurden, während Physiker auf dem Jahrmarkt die neuesten Versuche zur Elektrizität vorführten. Wo Zahnärzte auf der Bretterbühne ihre übernatürlichen Kräfte zeigten und Marionettenspieler in der Fastenzeit geistliche Stücke zum Besten gaben. Wo bürgerliche Laienspieler von Molière über heroische Trauerspiele zu Kotzebue fanden. Wo die Stadtväter nichtsdestotrotz für Ordnung im Spiel- und Theaterwesen sorgten und unermüdlich den aussichtslosen Kampf gegen «garstige» Fastnachtsmasken führten.
Die umfangreiche Materialedition zu Ritus, Fest, Zeremonie sowie zu Aufführungen von Wandertruppen, Jesuiten und Bürgern stellt Allgemeinwissen zum «Theater der Aufklärung» in Frage. Der vermeintliche Triumph des Kunsttheaters im 18. Jahrhundert erscheint aus der Perspektive von 120'000 ausgewerteten Ratsprotokollseiten als eine Gewinn- und Verlustrechnung.

Geb. 1967 in Bern, Studium der Theaterwissenschaft, Germanische Philologie und Neuere deutsche Literatur in Bern. Seit Oktober Universitätsprofessor für Theater- und Kulturwissenschaft an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Ältere europäische Theatergeschichte, Theatertheorie, Commedia all'improvviso, Theatergeschichte und Dramaturgie des 18. Jahrhunderts, Geschichte der Theatergeschichtsschreibung und Gegenwartsdramatik.


Bücher im Chronos Verlag

Besprechungen

Inszenierte Aktensprache

Solothurns Theater im 18. Jahrhundert

Wenn die Theatergeschichtsschreibung für vergangene Jahrhunderte – in
diesem konkreten Fall das 18. Jahrhundert in Solothurn – noch substanzielle
Fortschritte machen will, ist das nur mit härtester Knochenarbeit zu
leisten. Stefan Hulfeld, Assistent am Institut für Theaterwissenschaft in
Bern, hat mit seiner nun in überarbeiteter Form als Buch vorliegenden
Dissertation «Zähmung der Masken, Wahrung der Gesichter» die Probe aufs
Exempel gemacht: Für einen scheinbaren Nebenschauplatz der Theatergeschichte
hat er eine ungeahnte Fülle von Theaterereignissen ans Licht gebracht, so
dass ihm für jeden Gedankengang mehrere Belege zu Gebote stehen. Die
Ratsmanuale in Solothurn, seine hauptsächliche Quelle, sind allerdings
reichlich dürr im Detail und zwingen ihn hin und wieder dazu, der
Anschaulichkeit mit Phantasie auf die Sprünge zu helfen.
Die Publikation teilt sich in einen Quellenteil mit der vollständigen
Aufzählung der Belege und in eine Studie. Darin widmet sich Hulfeld, der
einem «weiten» Theaterbegriff verpflichtet ist, den zeitlichen und
räumlichen Variablen verschiedenster theatraler Phänomene – vom
Schausteller bis zur berühmten Wandertruppe. Es folgt eine Beschreibung der
Mechanismen der Hervorhebung, die eine Aufteilung in Akteure und Publikum
steuern. Nach der Schilderung von sieben exemplarischen Theaterereignissen
schliesst das Buch mit dem titelgebenden Kapitel. Es zeigt unter anderem,
wie sich das «Theatralitätsgefüge» – von Hulfeld als Verhältnis
verschiedener Theatertypen verstanden, von denen das Kunsttheater nur einer
ist – in Solothurn im Laufe der Zeit immer wieder geändert hat. Die
verschiedenen Ausprägungen theatralen Verhaltens erweisen sich als
Indikatoren gesellschaftlicher Dynamik.

Tobias Hofmann

Stefan Hulfeld: Zähmung der Masken, Wahrung der Gesichter. Theater und
Theatralität in Solothurn 1700-1798. Chronos Verlag, Zürich 2000. 617 S.,
Fr. 68.-.

Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.

Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON 21.08.2001 Nr. 192 56

Diese Buchreihe fördert die Publikation von Texten zur Grundlagenforschung in der Theaterwissenschaft. In Aufsatzbänden bleibt bei einer Vielfalt der Gegenstände auch eine methodische Variationsbreite gewahrt. Sie bereiten als Sondierungen das Terrain für Monografien vor, für historische Längsschnitte, in denen eine Theaterform über einen längeren Zeitraum untersucht, und für historische Querschnitte, in denen das Nebeneinander, die Wechselwirkungen verschiedener Theaterformen in einem relativ kurzen Zeitraum erforscht werden