Kein Konformist
upj. Als einen streitbaren Philologen «zwischen den Kulturen» und als einen
Gelehrten ohne Hang zu staubigen Studien stellt Michele C. Ferrari den
Zürcher Universitätsgründer Johann Caspar von Orelli (1787-1849) im eben
erschienenen Tagungsband vor. Aus Anlass des 150. Todestages dieses
einstmals berühmten und nun in Vergessenheit geratenen Zürchers haben 1999
in Locarno wie in Zürich zwei Tagungen stattgefunden, die Vita und Werk von
Orellis neu zu beleuchten die Aufgabe hatten. Dabei kommen auch Spuren und
Einfärbungen zum Vorschein, die ahnen lassen, dass von Orelli nicht zu den
Konformisten gehört hat. Das Neue reizte ihn mehr als das Weitertreten in
den Spuren des Bekannten. Das zumindest mag erklären, dass einer, der selbst
keine Universität besucht hatte, sich dem Wagnis stellte, eine Universität
zu gründen. Auch andere Auffälligkeiten sind zu vermelden. Ein ausgewiesener
klassischer Philologe begeistert sich für die neueste italienische
Literatur - und bleibt nicht stehen bei der Begeisterung; er macht sich
selbst ans Übersetzen. Der Dialog zwischen der italienischen und der
deutschsprachigen Kultur war ihm ein Seelenanliegen, hingegen hat sich sein
Herz kaum je für die Zürcher Theologen erwärmen können, auch wenn er selbst
ausgebildeter Pfarrer war. Vollends polarisierend wirkte sein Eintreten für
den nach Zürich berufenen Theologen David Friedrich Strauss, den von Orelli
als «Mitstreiter gegen Unwissenheit und Finsternis» verteidigte. Doch da
halfen selbst feurige Worte nichts mehr. Strauss kam nicht nach Zürich, von
Orelli wurde aus dem Erziehungsrat «entfernt». Zürich hat dem streitbaren
Geist kaum je Ehre erwiesen. Auch das reflektiert der sorgfältig gemachte
Tagungsband.
Gegen Unwissenheit und Finsternis. Johann Caspar von Orelli (1787-1849) und
die Kultur seiner Zeit. Herausgegeben von Michele C. Ferrari.
Chronos-Verlag, Zürich 2000. 388 S., Fr. 49.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON 13.01.2001 Nr. 10 64