«Wo es hell ist, dort ist die Schweiz»

Flüchtlinge und Fluchthilfe an der Schaffhauser Grenze zur Zeit des Nationalsozialismus

Band Schaffhauser Beiträge zur Geschichte
Gebunden
2001. 2. Auflage.
336 Seiten, 22 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-905314-05-2
CHF 54.00 / EUR 33.00 
Vergriffen / Restexemplare beim Verlag (Versand nur innerhalb der Schweiz)
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Mittlerweile liegt eine Fülle von Untersuchungen vor, welche die Schweizer Flüchtlingsgeschichte zur Zeit des Nationalsozialismus detailliert abbilden und reflektieren. Was aber geschah in den Kantonen? Darüber ist bisher nur wenig bekannt. Diese Lücke zu füllen ist von einiger Bedeutung, da den Kantonen bei der Durchsetzung der Flüchtlingspolitik eine gewichtige Rolle zukam. Franco Battel untersucht in seiner Arbeit die Schaffhauser Flüchtlingspolitik. Auch wenn dieser Kanton nie im eigentlichen Zentrum der Fluchtbewegung stand, war er aufgrund seiner langen und unübersichtlichen Grenze gleichwohl ein beliebter Fluchtpunkt.
Dem damaligen Geschehen an der Schaffhauser Grenze kommt eine überregionale Bedeutung zu. Waren beispielsweise die in Bern formulierten Weisungen und die konkrete Praxis an der Grenze deckungsgleich? Das Buch zeigt, dass die Schaffhauser Fremdenpolizei in den ersten Jahren des Nationalsozialismus repressiver gegen kommunistische Flüchtlinge vorging, als sie dies gemäss eidgenössischer Weisungen hätte tun müssen. Erst ab 1942 entwickelte sich vor allem gegenüber jüdischen Flüchtlingen eine Schaffhauser Praxis, die humaner war als die Vorgaben aus Bern. Dass es von der Deportation bedrohten Jüdinnen und Juden überhaupt gelang, sich bis an die Schaffhauser Grenze durchzuschlagen und diese zu überwinden, war meistens der Ortskenntnis von Fluchthelferinnen und Fluchthelfern zu verdanken. Mittels Polizei- und Gerichtsakten, aber auch autobiografischen Texten und Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zeichnet der Autor verschiedene Fluchtwege nach und stellt die Frage nach den Motivationen für die Fluchthilfe.
Die Arbeit vermittelt eine Gesamtschau, die über die Kriegsjahre und einzelne Flüchtlingskategorien hinaus auch die Aufnahme- und Rückweisungspraxis, beispielsweise gegenüber entwichenen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitsflüchtlingen, vergleicht und auch das Verhältnis zwischen der jüdischen Gemeinde und den Flüchtlingen sowie die Wechselbeziehungen zwischen der Schaffhauser Arbeiterbewegung und den kommunistischen Flüchtlingen untersucht.

Besprechungen

Helle oder dunkle Schweiz?

Die Schaffhauser Flüchtlingspraxis 1933-1945

Für Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Machtbereich, die in den
Jahren 1933-1945 Asyl suchten, war die Schweiz ein schwer einschätzbares
Land. Einerseits leuchtete die Schweiz real, wie es der Titel des hier
anzuzeigenden Buches zum Ausdruck bringt, in die dunkle Nacht hinaus und
strahlte auch auf der symbolischen Ebene als Ort der Humanität, andererseits
mussten Flüchtlinge immer wieder die Erfahrung machen, dass sie von der
Schweiz abgewiesen und gar bedroht wurden und es mitunter auch Absprachen
zwischen den vermeintlichen Rettern und den Verfolgern gab. Will man sich
rückblickend Klarheit über die damals herrschenden Verhältnisse schaffen,
begegnet man erneut der gleichen Unübersichtlichkeit und ist es schwer, zu
bündigen Schlussfolgerungen zu kommen.

Hilfe und Abwehr

Man findet mit dem Autor, der sich über Jahre mit dem Thema befasst hat,
einerseits eine hilfs- und aufnahmebereite Bevölkerung und andererseits
beispielsweise einen Protest, der darauf abzielt, dass die Flüchtlinge ihre
Schuhe nicht selber flicken dürfen, weil dem Gewerbe dadurch Einnahmen
entgingen und dieses Verhalten gegen das Arbeitsverbot verstosse. Man
bemerkt, dass Schaffhausen punkto Spendenaufkommen an dritter Stelle stand
(hinter Zürich und Basel), dass aber Schaffhauser Magistraten auch der
Linken rigorose Abwehrhaltungen mittrugen. Weiter stellt man fest, dass
lange die (selbstberuhigende) Meinung vorherrschte: «Wäme nüt gmacht het,
denn cha eim au nüt passiere», dass aber die Dimensionen des Massenmordes
spätestens im Sommer 1942 bekannt waren und man sich trotzdem auf
Nichtwissen berufen wollte. Man stösst auf Fälle von völlig unkontrollierten
Einreisen mitten im Krieg per Taxi, Zug oder Schiff, aber auch auf Fälle mit
dramatischen Übergaben und Todesschüssen an der Grenze. Man hört das Reden
von «Einfallstoren», «Fluchtwellen» oder von «unkontrollierbaren Elementen»
und bringt dieses Reden schwer zusammen mit dem Diskurs von der humanitären
Mission der Schweiz.

Die Motive der «Schlepper»

Franco Battel, der sich im Rahmen von Lizentiats- und Doktorarbeit an der
Universität Zürich seit etwa 1991 mit dem Thema befasst hat, bringt ein
Maximum an Klarheit zum Thema. Mit einem konsequenten Aufbau folgt er, nicht
ohne zuvor die Problematik der Bildung von Flüchtlingskategorien diskutiert
zu haben, den Konjunkturen der verschiedenen Fluchtbewegungen der
politischen, das heisst vorwiegend kommunistischen Flüchtlinge, dann der
jüdischen Flüchtlinge und schliesslich der Kriegsgefangenen, Zwangsarbeiter
und Deserteure.
Besondere Beachtung findet gleichsam zwischen Asylsuchenden und
Asylgebenden die Gruppe der Fluchthelfer beidseits der Grenze. Der Verfasser
will erfahren, in welchem Masse hier jeweils eine altruistic personality
(Oliner, 1988) am Werk war oder es sich nur um Dienste gegen Geld handelte.
Er kritisiert die bloss abqualifizierende Verwendung des Begriffs
«Schlepper» und macht darauf aufmerksam, dass jedenfalls die deutschen
Gerichte idealistisch bzw. politisch begründeten Helferwillen schärfer
verurteilten als ein bloss an materiellem Gewinn orientiertes Handeln und
dass aktenkundige Aussagen von überführten Fluchthelfern die wahren Motive
deshalb mitunter verschleierten.

Abweichungen von der Linie des Bundes

Die vorliegende Untersuchung versteht sich als Regionalstudie und ist eine
wichtige und hochwillkommene Ergänzung zu den bereits vorliegenden
Entsprechungen etwa zu Basel (Wacker, 1992), zum Tessin (Broggini, 1993 und
1998), zum Jura (Hauser, 1999) und neuerdings auch zu Genf (Santschi, Fivaz
u. a., 2000). Die Besonderheit Schaffhausens besteht darin, dass es eine
lange «grüne» und entsprechend schwer kontrollierbare Grenze nördlich des
Rheines hatte. Über ein Drittel der Flüchtlinge, welche 1939-1945 die
nördliche Grenze überquerten, kamen über Schaffhauser Gebiet. Allerdings
machten die Übertritte aus dem Norden nur etwa ein Fünftel aus, die grösste
Zahl kam aus dem Westen.
Battel stellt keine Vergleiche zwischen unterschiedlichen regionalen
Bedingungen an. Seine zentralen Vergleichspunkte sind die Vorgaben aus der
Bundesstadt. So hält Battel zu jeder Kategorie fest, zu welchem Zeitpunkt
«Bern» welchen Rahmen setzte. Dabei wird unter anderem in Erinnerung
gerufen, dass die Schweiz Flüchtlinge aus Kriegsgefangenschaft stossend
ungleich behandelte: Die wenig gefährdeten Soldaten aus westlichen Ländern
(zum Beispiel Frankreich und Grossbritannien) nahm sie ohne weiteres auf,
während sie die wesentlich stärker gefährdeten Ex-Soldaten aus
osteuropäischen Ländern (zum Beispiel Polen) abwies. Kriegsdienstverweigerer
wurden sonderbarerweise nie als an «Leib und Leben» gefährdet betrachtet und
durften darum nicht aufgenommen werden.
Anknüpfend an die Basler Modellstudie von 1992 formuliert Franco Battel
seine Befunde bezüglich der Wahrnehmung von kantonalen
Handlungsspielräumen bei den verschiedenen Kategorien wie folgt: Gegenüber
den kommunistischen Flüchtlingen war die Schaffhauser Praxis «härter als
Bern»; gegenüber den jüdischen Flüchtlingen was sie «teilweise humaner als
Bern»; bezüglich der Kriegsgefangenen und der Zwangsarbeiterinnen und
-arbeiter war sie anfänglich willkürlich und kippte dann in den Ungehorsam;
und gegenüber Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern befolgte sie
weitgehend die Vorgaben aus Bern. In der Binnendifferenzierung bestätigt
sich die von Guido Koller (Bundesarchiv) 1996 beobachtete Tendenz, dass
Grenzwächter die Rückweisungsbestimmungen härter anwandten als die
Polizeiorgane.

Zahlen und ihre Relativität

Nach der zum Teil massiven Kritik, die der Flüchtlingsbericht der
Expertenkommission Bergier (UEK) auf sich gezogen hat, könnte es speziell
interessieren, welcher «Seite» nun die, wie gesagt, lange zuvor an die Hand
genommene Studie Recht gibt. Battel praktiziert ebenfalls eine gemischte
Methode mit der qualifizierenden Präsentation von Einzelfällen und einem
quantitativen Einschätzen der Vorgänge. Die Vermittlung von bündigen
Wahrheiten wird abgesehen von der eingangs erwähnten Unübersichtlichkeit der
Verhältnisse auch durch die Unabklärbarkeit gewisser Fragen an die
Vergangenheit verhindert.
Was Battels Quantifizierungen zeigen: Es sind nicht die ganz grossen
Grössenordnungen, in denen sich Barmherzigkeit und Unbarmherzigkeit
abspielten. Zudem lassen sich Aufnahmen wie Abweisungen schwer feststellen.
Manche Aufgenommenen wurden ohne Registrierung gleich nach Zürich oder
Basel weitergeschoben. Zur Grundhaltung: Anfang August 1938 wollte man in
Schaffhausen bei Anwesenheit von 35 Flüchtlingen «unter allen Umständen»
(Bringolf) weitere Einreisen verhindern, und trotzdem gelang am
17./18. August 39 Jüdinnen und Juden der illegale Grenzübertritt und wurden
zwischen dem 19. und dem 22. August weitere 14 jüdische Flüchtlinge
aufgenommen; für die Zeit zwischen dem 22. August und Jahresende sind noch
17 Aufnahmen belegt. Den Aufnahmen stehen die Abweisungen gegenüber:
Zwischen 19. August 1938 und Jahresende wurden 149 Rückweisungen
verzeichnet; der Verfasser kommt aber auf Grund verschiedener Überlegungen
zum Schluss, dass es bis zu 400 gewesen sein müssen. So seien im Falle
Schaffhausens 1938 etwa dreimal mehr Flüchtlingen abgewiesen als
aufgenommen worden. Die Zahlen der späteren Jahre sind ebenfalls
bescheiden: 1939: 11, 1940: 1, 1941: 2. Diesen Zahlen stehen für 1939 und
1940 insgesamt 6 Rückweisungen gegenüber.
Waren das viele oder wenige? Was lässt sich daraus mit theoretischer
Zahlenakrobatik ableiten? Der Verfasser weist mehrfach auf die
generalpräventive Abschreckungswirkung der Grenzschliessung hin und damit
auf einen willentlich eingesetzten Effekt, der gewiss eine allgemeine, aber
schwer einzuschätzende Wirkung hatte, wie umgekehrt erfolgreiche Fluchthilfe
weitere Fluchtversuche nach sich zog.

Haltungen mit Wirkungen

Battel fokussiert seine Studie nicht wie der Bericht der UEK einzig auf die
Kategorie der jüdischen Flüchtlinge. Trotzdem werden auch in seiner Studie
der antisemitische Hintergrund sichtbar und die Neigung, im Falle von
religiös gemischten Paaren gleich beide Flüchtlinge der jüdischen
Privathilfe anzuhängen. Der Antisemitismus tritt in Kombination mit einer
in ihrem Ursprung ähnlich theoretischen, vom konkreten Anwendungsfall oft
abstrahierenden Fremdenangst auf. Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung will
Battel nicht wie Walther Bringolf glorifizieren, er hält sie aber für
«gross» und für ein wirksames Korrektiv gegenüber der im Namen des Staates
praktizierten Restriktion: «Es ist kein einziges Beispiel bekannt, wo der
Einsatz der Bevölkerung zugunsten von gefährdeten Flüchtlingen nichts
gefruchtet hätte.» Der Autor schränkt dann allerdings ein, dass solche
Einsätze - übers Ganze gesehen - «singuläre Erscheinungen» geblieben seien.
Sein Schlusssatz: «Sonst hätte die Schweizer Flüchtlingspolitik wohl anders
ausgesehen und würde heute auch anders bewertet.»

Georg Kreis

Franco Battel: «Wo es hell ist, dort ist die Schweiz». Flüchtlinge und
Flüchtlingshilfe an der Schaffhauser Grenze zur Zeit des
Nationalsozialismus. Chronos-Verlag, Zürich 2000. 375 S., Fr. 54.-. Anhang
mit sechs Flüchtlingsinterviews und drei Listen von aufgenommenen, an der
Grenze zurückgewiesenen und im Bewilligungsverfahren abgelehnten jüdischen
Flüchtlingen.
Der Rezensent ist Mitglied der UEK.

Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 27.01.2001 Nr. 22 61