Spurensuche eines Juden
Lebensstationen von Wolf Zeev Ehrenberg
pi. Mit «Emigrationen» sind die Lebenserinnerungen des 1926 in Pforzheim
(Baden) geborenen Wolf Zeev Ehrenberg überschrieben. Fliehen musste der
Autor zunächst als Neunjähriger zusammen mit seinen jüdischen Eltern vor
der Barbarei der Nationalsozialisten; emigrieren musste Ehrenberg
schliesslich auch innerlich. Ein Leben lang hat er seine Spuren und Wurzeln
gesucht: Das Judesein in Deutschland, in Palästina und in der Schweiz war je
grundsätzlich anders, und dies stellte den sensiblen Autor immer wieder vor
neue existenzielle wie psychische Herausforderungen. Es sollten Jahre
vergehen, bis er «mit seinen Gefühlen ins Reine kam», «endlich vor der
Aversion gegen das Ðechteð Deutsch geheilt» war und es ihm «ungetrübten
Spass machen konnte, bei passender Gelegenheit Hochdeutsch zu sprechen».
Dieser psychologische Befreiungsschlag, dargestellt auf der drittletzten
Seite der Autobiographie, gelang Ehrenberg in einem relativ späten
Lebensabschnitt.
Nach Palästina oder zu Hitler?
Chronologisch und detailliert beschreibt der Autor die Stationen seines
Werdegangs, indem er zum Teil sehr persönliche Reminiszenzen und Erlebnisse
mit den gesellschaftlichen und politischen Geschehnissen verwebt. Im
Frühjahr 1933 beispielsweise, wenige Wochen vor der Emigration der Familie,
kleben zwei ältere Mitschüler dem jungen Wolf einen Zettel mit den Worten
«Jude - nach Palästina» auf den Rücken. Die Lehrerin beweist Zivilcourage
oder «aktiven Anstand», wie es der Historiker Fritz Stern nennen würde, und
gibt den beiden eine Ohrfeige. Als im Mai desselben Jahres den jüdischen
Ärzten die Kassenzulassung entzogen wird und der Vater damit seinen Beruf
nicht mehr ausüben kann, wandert die Familie Ehrenberg über die Schweiz
nach Palästina aus. Mit dem Exil setzt eine «gewaltige Verdrängung» ein;
Wolf nennt sich fortan Zeev und versucht, seine Erinnerungen aus seiner Zeit
in Deutschland zu vergessen. In der Öffentlichkeit Palästinas wird das
Deutsche diskreditiert. «Geh zu Hitler!», schreien ihm die Kinder in den
ersten Monaten nach, was den jungen Ehrenberg nach eigenen Angaben nicht
besonders beschäftigt. Trotzdem nimmt er die ambivalente Einstellung der
alteingesessenen Juden zu den neu eingewanderten aus Deutschland, den
sogenannten Jeckes, wahr, die zwischen Neid und Verständnislosigkeit, Spott
und Bewunderung schwankt. Gerne würde man noch mehr darüber lesen, auch über
Ehrenbergs damalige Sicht und Wahrnehmung des Krieges und der Pogrome in
Europa. Doch das Leben in Palästina geht für ihn normal weiter, was im
Rückblick «befremden» möge, wie er notiert. Vor allem beschreibt er eine
andere Sicht der jüdischen Geschichte: die Spannungen zwischen den West- und
den Ostjuden, den Orthodoxen und Nichtorthodoxen, den Juden und den Arabern
sowie den Juden und den Engländern im Palästina der dreissiger und
vierziger Jahre. Zudem wird in Zeevs Schulzeit die Schaffung eines
jüdischen Staates - zumindest geistig - vorbereitet.
Viele Identitäten
Das Hin-und-her-gerissen-Sein zwischen den verschiedenen Identitäten beginnt
erst viel später, und zwar in der Schweiz während des Ingenieurstudiums an
der ETH in Zürich. In unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland, dem Land
seiner frühesten Jugend, tauchen plötzlich wie Gespenster aus der
Vergangenheit Erinnerungen auf. Gleichzeitig geht in Palästina der Krieg
los, und Ehrenberg sitzt im «goldenen Käfig». Die affektive Beziehung zu
seinen Wurzeln, die langwierige Spurensuche, die mehrere, zum Teil
«schmerzliche» Phasen durchläuft, analysiert Ehrenberg wie folgt: «Als Jude
hatte man ihn aus Deutschland hinausgeworfen - als was kam er mit zwanzig
nach Europa zurück? Er hatte nicht das Gefühl, als Jude in die Schweiz zu
kommen, die Juden, die ihm hier begegneten, waren ihm noch fremder als die
übrigen Schweizer. (. . .) Die Juden hier erzählen ihm vom Antisemitismus.
Zeev versucht diesen aufzuspüren, viel findet er eigentlich nicht. Woraus
besteht sein Judentum überhaupt?»
Wolf Zeev Ehrenberg: Emigrationen. Lebensstationen eines Juden aus
Deutschland. Chronos-Verlag, Zürich 2000. 243 S., Fr. 38.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 09.03.2001 Nr. 57 18