Biographie. Kein Spiel
Stefan Mächlers Recherche über Binjamin Wilkomirski
Lange bevor der Psychoanalytiker William G. Niederland mit der Studie
«Folgen der Verfolgung. Das Überlebenden-Syndrom Seelenmord» ein
Pionierwerk über die psychischen Beschädigungen (jugendlicher)
Holocaust-Überlebender vorgelegt hat, war es sein 1965 publizierter Essay,
welcher mittelbar zum Sturz eines Jahrhundertdenkmals führte. Niederlands
psycho-biographische Studie von Heinrich Schliemanns oft fiktiven, ja
phantasmagorischen «autobiographischen» Schriften senkte in die Fachwelt
jenen Keim des Zweifels, aus welchem im Laufe der siebziger Jahre akribische
Quellenforschungen erwuchsen. Als der Philologe William Calder III die
Schliemann'sche Autobiographie als Fiktion offenbarte, war das Entsetzen der
Öffentlichkeit gross: Man hatte mit dem Entdecker-Helden eine
Integrationsfigur und ein Symbol verloren. Wurde am Fall Schliemann der
Leitwert von der «hehren Wissenschaft» touchiert, so verhandelt man nun an
der Causa Wilkomirski eine ideelle Übereinkunft des 20. Jahrhunderts:
Respekt vor und Empathie gegenüber den (überlebenden) Opfern der Shoah.
Erweisen Historikerstreit, Restitutionsdebakel und Querelen um das Berliner
Holocaust-Memorial das Ringen um eine adäquate Form «öffentlicher»
Erinnerungskultur, so schien mit der Memoirenliteratur ein authentisches
Medium für die individuelle Vergegenwärtigung zuhanden: Die ungebrochene
Konjunktur «Anne Franks», der Widerhall, den die literarisierten
Erinnerungen von Ruth Klüger, Louis Begley und Imre Kertész finden, belegen
den unstillbaren Hunger nach Exemplifizierung des Unvorstellbaren. Als im
Jüdischen Verlag des Hauses Suhrkamp 1995 unter dem Titel «Bruchstücke. Aus
einer Kindheit 1939-1948» ein in der ersten Person Singular verfasster Text
über die traumatische Odyssee eines jüdischen Knaben herauskam, schien ein
neues Kapitel in der Geschichte der Evokation des Grauens aufgeschlagen:
Selten wurden Verstörung, Gewalt und Terror in so eindringliche Worte und
Bilder gefasst wie in dem schmalen Band, selten wurden ultime physische und
psychische Bedrohung auf so unerträgliche Weise suggeriert wie in dieser
fragmentarischen Prosa.
Was Wunder, dass - rund um den Erdball - die «Bruchstücke» für Aufsehen
sorgten und mit ihnen der Autor Binjamin Wilkomirski, ein unter dem
bürgerlichen Namen Bruno Doessekker in der Schweiz lebender Musiker.
Entsprechend tragisch war die Fallhöhe, als Daniel Ganzfried im August 1998
in der «Weltwoche» deklarierte, Wilkomirski sei «nie als Insasse in einem
Konzentrationslager» gewesen, sondern vielmehr ein 1941 als Bruno Grosjean
in Biel geborener Schweizer Bürger. Die Aufregung darob war gewaltig und
ist es bis zum heutigen Tage, als sich Ganzfrieds insistierende Artikel
inzwischen auf den Vorwurf planmässig kalkulierten Betrugs eingeschossen
haben. Anlass für die literarische Agentur Liepmann, die 1994 das Manuskript
entgegengenommen und die Rechte weltweit vermittelt hatte, ihrerseits eine
historische Überprüfung in Auftrag zu geben: Mit dem Band «Der Fall
Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie» des Historikers Stefan
Mächler liegen deren Ergebnisse nun auch öffentlich vor.
Umwege
In einer ausgreifenden, spiralförmig kreisenden Bewegung nähert sich Mächler
der Frage nach der Authentizität des «Bruchstücke»-Textes. Der Studie ist es
mitnichten um eine eilfertige Erledigung der vordergründigen
Entscheidungsfrage «Lügt Wilkomirski?» zu tun: Mächlers Methode ist das
geduldige Abschreiten der Hintergründe, und es erweist sich, dass es einer
langen und langsamen Schrittfolge bedarf, um die Sprüche und Widersprüche,
die Beobachtungen und Erkundungen, Zeugen und Zeugnisse in einer
Gesamtdarstellung zu verstauen. Der Abschnitt «Wilkomirski erzählt» bietet
auf breitestem Raum eine Bühne für die Selbstdarstellung von Person und
Autor: Wo der extensiv zitierte Originaltext nicht hinreicht, fügt Mächler
Passagen aus Selbstaussagen ein. Wir erkennen Strukturen und Muster von
Wilkomirskis «Überzeugungsarbeit» und ahnen, warum den Inkongruenzen
«seiner» Geschichte so schwer zu widersprechen gewesen ist. Im Schutz der
Vorgabe einer fundamentalen Traumatisierung durch ungeheuerliche
frühkindliche Erlebnisse schafft die strategisch placierte Gedächtnislücke
einen unüberprüfbaren Raum, dient andererseits das einzelne «photographisch
genau» memorierte Detail als historisches Echtheitszertifikat.
Ein dem Kinde von unbekannter Hand aus Polen mitgegebener Löffel mit den
Aufschriften «KL Lublin» / «Blockov 5» etwa vergegenständlicht einerseits
das Dortgewesensein, lässt sich andererseits aber auch als aggressiv
geführte Waffe der Denunziation verwenden: Die Zürcher Adoptiveltern hätten
ihm nicht nur das Verschweigen und Vergessen seiner Herkunft gewaltsam
aufoktroyiert, sondern ihn durch die Konfiskation der persönlichen
Gegenstände ein weiteres Mal um sein Vorleben gebracht. So changiert
Wilkomirskis Rede zwischen grausigen Lager-Erinnerungspartikeln und
hässlichen Insinuierungen hinsichtlich einer schweizerischen
Nachkriegsgesellschaft, die den heimatlosen Knaben gewissermassen auf ihre
Weise noch einmal «vernichtet» habe. Das Oszillieren zwischen Erlebnis und
Interpretation, zwischen Erinnerung und Traum ermöglicht ein Wahr-Sagen
eigener Art. Zweifellos sprechen Wilkomirskis Aussagen wahrhaftig von einer
Art «Realität»: Die Crux dabei ist, dass die Rezeption als faktischen
Realismus auffasste, was Wilkomirski als psychische Realität verstand.
Eindringlich lässt sich verfolgen, wie sich der Musiker Doessekker während
der sechziger Jahre allmählich auf sein künftiges Lebensthema einzuspielen
beginnt: Das Studium der Geschichte soll helfen, die Identitätswurzeln
aufzuspüren, eine Doktorarbeit über die jüdische Migration in Osteuropa
1918-1938 bleibt allerdings unvollendet. Er reist mehrmals nach Polen und
trägt ungeheure Mengen von Forschungsliteratur zusammen. Als er mit dem
israelischen Psychiater Elitsur Bernstein und Verena Piller um 1980 herum
einen Freund und eine neue Lebensgefährtin gewinnt, scheint damit eine von
Krisen und Krankheit geprägte biographische Periode abgeschlossen. Beide
ermuntern ihn nun, seinen quälenden Albträumen, Erinnerungen und
Seelenzuständen in Wort und Schrift Ausdruck zu schaffen. Mehrere
gemeinsame Reisen führen in den frühen neunziger Jahren an die polnischen
Topographien des Terrors (Auschwitz und Birkenau, Majdanek und Krakau), oft
wurden die Begehungen in Videoaufnahmen dokumentiert. Die bewegenden Bilder
- fürderhin dienliches «Beweismaterial» - muten umso befremdlicher an, als
Wilkomirskis vorgebliche Bewusstseinserweckung von seinen engsten Vertrauten
abgefilmt wird wie das Verhalten eines Versuchstiers.
Das Moment des Wiedererkennens wird fortan zum Leitmotiv und formuliert sich
etwa auch in jener Methode der Erinnerungs- und Trauerarbeit, die
Wilkomirski und Bernstein als Variante der «Recovered Memory Therapy» seit
1996 weltweit auf Fachkongressen präsentieren: Durch die Zusammenarbeit von
Historikern und Psychologen sei die Glasglocke frühkindlich empfangener
Traumata zu lüften. Wilkomirski figuriert in der Doppelrolle als Zeuge und
Historiker, gecoacht von dem omnipräsenten Bernstein und bestärkt von der
Lebenspartnerin, die keine Mühen scheut, in Interviews noch das privateste
Leidenssymptom wortreich zu entfalten. Mag Ganzfrieds These von einer
systematischen «Erfindung und Konfektionierung der Figur Wilkomirski» gar
radikal anmuten, so ist doch augenfällig, wie es die konsequent und
konzertiert kooperierende Konstellation Wilkomirski/Piller/Bernstein
vermochte, Evidenzen zu erzeugen, welche von Laienpublikum und Fachwelt, ja
selbst von Zeitzeugen als unzweifelhaft akzeptiert wurden.
Kette von Alibi-Handlungen
All dies hätte freilich nie zu solch wirksamer Perfektion gefunden, hätte
der Verlag den schon kurz nach der Akquisition der Rechte vernehmbaren
warnenden Stimmen Glauben geschenkt. Die Chronologie der hektischen
Bemühungen von Verlags- und Agenturseite, Dokumente und Zeugnisse zur
Widerlegung der Zweifel beizubringen, erweist sich als Kette von
Alibi-Handlungen, chaotisch sekundiert vom Diskant der hoch emotionalen
Begleitstimme Wilkomirskis. Suhrkamp- Beschimpfung zu betreiben, hiesse
indes, das übliche Reiz-Reaktions-Schema in «Fälschungs»- Fällen zu
perpetuieren. Wilkomirskis im Juni 1995 dem Text hinzugefügte Nachbemerkung
rekurriert auf das Schicksal der mit falschen Staatsbürgerpapieren
versehenen «Kinder ohne Identität» und schliesst sentenziös: «Die
juristisch beglaubigte Wahrheit ist eine Sache, die eines Lebens eine
andere.» Damit scheinen die «Bruchstücke» fürs Erste «wasserdicht» und
treten ihren Weg an die Öffentlichkeit an.
Die Chronik der spektakulären - erst applaudierenden, nach Daniel
Ganzfrieds Hinweisen ebenso disqualifizierenden - Rezeption liest sich wie
ein Exempel für die Macht der Induktion: Die «Bruchstücke» erzeugen - je
nach der Perspektive - als «authentisches Zeugnis» ebenso «Sinn», wie sie
die Annahme einer «Fälschung» oder eines fiktiven Konstruktes durch
zahlreiche Indizien bestätigen. Wird hier das Bruchstückhafte,
Irrlichternde, die sonderbare Verschwisterung von Detailrealismus und
raunendem Halbdunkel als Ausdruck von Traumatisierung und Ichverlust
deutbar, können dieselben Textmerkmale als Beleg für die
Non-sequitur-Strategien einer ausgefuchsten Fiktion geltend gemacht werden.
So trivial diese Einsicht in die Umkehrbarkeit von Perspektiven und
Interpretationen, so peinlich wurde sie dort, wo das Kapital der Dignität
von Holocaust-Opfern mittelbar auf dem Spiel stand.
Punkt für Punkt leuchtet Mächler die in «Bruchstücken» und Selbstaussagen
angelegten Schummerzonen aus und bahnt einen Weg durch das Gestrüpp von
Reden und Widerreden, in welchen Wilkomirski sich im Laufe der Zeit
verheddert hat. Die Befragung der Materialien gestaltet sich peinsam und
peinigend, da die autobiographische Indiskretion erstens wiederholt, dann
aber im Zuge der Überprüfung weit über das Erträgliche hinaus
weitergetrieben werden muss. Angesichts dessen scheint es auf makabre Weise
fast humoristisch, wenn der Sohn der Pflegefamilie in Nidau bei der Lektüre
des in den «Bruchstücken» geschilderten polnischen Kleinbauernhofes
spontan sein schweizerisches Heimatbiotop wieder erkennt. «Mit so viel
Authentizität», schreibt Mächler, habe er «nicht gerechnet»: Das Buch
erzähle «in atemberaubender Verfremdung [ein] eigenes Leben, dasjenige von
Bruno Grosjean».
Wenn Mächler damit explizit den von Daniel Ganzfried wiederholt geäusserten
Vermutungen einer vorsätzlich geplanten und ins Werk gesetzten Fälschung
widerspricht und dagegen die psychische «Wahrheit» von Wilkomirskis
Über-Identifikation mit den Opfern des Holocaust proklamiert, plädiert er
implizit für den sanfteren Weg. Die von ihm vorwiegend unpolemisch
dargestellte Genese des «Falls Wilkomirski» beleuchtet eindringlich die
Falle, in welche sich die Rezeption locken liess - es ist die Falle der
Bedeutung der drei Buchstaben ICH. Dass die Natur dieses «Ich»-Sagens von
Anbeginn an nicht offen diskutiert worden ist und Einsprüche aus einer Art
Opfer- overcare unterblieben (mitunter gar verhindert worden) sind, ist das
eigentlich Fatale. Jetzt, da Hardcover- und Taschenbuchausgabe gesperrt
worden sind, die Agentur das Mandat zurückgegeben hat und die Zürcher
Staatsanwaltschaft gegen Doessekker/Wilkomirski ermittelt, wäre der
Zeitpunkt, von der Häme zu lassen.
Christiane Zintzen
Stefan Mächler: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie.
Pendo-Verlag, Zürich 2000. 367 S., Fr. 19.90.
Zum Thema erschienen ist auch: Elena Lappin: Der Mann mit zwei Köpfen.
Chronos-Verlag, Zürich 2000. 103 S., Fr. 29.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON 08.07.2000 Nr. 157 63