Rauhes Klima im Kalten Krieg
In der Tschechoslowakei der frühen Nachkriegszeit genoß ein Schweizer große Popularität: der Historiker Jean Rudolf von Salis. Dessen Kommentare zur Kriegslage - zwischen 1939 und 1945 wöchentlich über Radio Beromünster verbreitet - hatten auch im "Protektorat Böhmen und Mähren" trotz Verbot eine zahlreiche und dankbare Hörerschaft gefunden. Als Salis im Juni 1946 zu Vorträgen in Prag erschien, strömten die Mitglieder seiner tschechischen Fan-Gemeinde in Scharen herbei, um den unbestechlichen Chronisten des Zeitgeschehens auch von Angesicht kennenzulernen. Aber die aus dunklen Kriegstagen vertraute Radiostimme ließ sich in einer Sprache vernehmen, welche die meisten von ihnen gar nicht verstanden: Man hatte den Referenten ersucht, französisch zu sprechen, und dem Publikum den Text seines Vortrages in tschechischer Übersetzung ausgeteilt.
Die Episode illustriert an einem harmlosen Beispiel, welches sprachpolitische Klima in der Tschechoslowakei damals herrschte. Daß die dort niedergelassenen deutschsprachigen Schweizer die Animosität von Behörden und Bevölkerung ihres Gastlandes gegenüber allem Deutschen kaum weniger unsanft zu spüren bekamen als die Angehörigen der deutschen Volksgruppe, belegt Christoph Späti.
Allerdings war die Zahl der in der Tschechoslowakei lebenden Schweizer recht klein: ungefähr 600. Im Unterschied zu den deutschen Vertreibungsopfern konnten sie Anspruch auf Entschädigung für ihr vom tschechoslowakischen Staat konfisziertes oder nationalisiertes Eigentum geltend machen. In der Praxis erwies sich dieser Anspruch indes oft als schwer oder gar nicht durchsetzbar. Sprachchauvinismus, Neid und feindnachbarliche Begehrlichkeiten fanden sich häufig zusammen, wenn es darum ging, Gründe oder Vorwände für die Enteignung von Schweizer Bauern und kleinen Geschäftsinhabern zu finden.
Die Übernahme substantiellerer Vermögenswerte, insbesondere industrieller Anlagen, geschah dagegen im Namen der "antikapitalistischen" Wirtschaftspolitik eines Staates, der bis Februar 1948 zwar noch nicht voll sowjetisiert, aber doch schon weitgehend von der kommunistischen Partei dominiert war. Gewichtige Unternehmen der Schweizer Wirtschaft - wie Brown Boveri, Ciba, Sandoz, Nestlé oder Maggi - waren bereits in der Vorkriegstschechoslowakei präsent gewesen. Einigen von ihnen konnte man vorwerfen, ihr Engagement während der Protektoratszeit noch verstärkt zu haben; vereinzelt waren auch "arisierte" Betriebe in schweizerischen Besitz übergegangen.
Bei ihren Anstrengungen, die Interessen ihrer nationalisierungsgeschädigten Landsleute so wirksam als möglich zu verteidigen, kam der Berner Wirtschaftsdiplomatie die Tatsache zugute, daß die Schweiz mit ihrer intakten Produktionskapazität inmitten des weithin kriegsversehrten Europa ein für die Tschechoslowakei attraktiver Handelspartner und Kreditgeber war. Die Schweiz über Gebühr zu brüskieren erschien aus Prager Sicht auch politisch wenig ratsam: Vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges war ein - wenn auch "kapitalistischer" - Neutraler als Antenne zum Westen nicht ohne Wert.
Späti kann detailliert aufzeigen, wie es pragmatisch gesinnten Kräften innerhalb der Prager Regierung im Herbst 1946 gelang, gegen den Widerstand linker Dogmatiker einen Mehrheitsentscheid zugunsten der Aufnahme von Entschädigungsverhandlungen mit der Schweiz herbeizuführen. Außenminister Jan Masaryk und der sozialdemokratische Vizepremier Zdenek Fierlinger gehörten zu den verständigungswilligen Elementen. Eine Teilvereinbarung konnte noch vor Jahresende 1946 unterzeichnet werden - es war die erste derartige Abmachung, die die Tschechoslowakei überhaupt mit einem ausländischen Staat traf.
An einem geregelten Verhältnis zu Bern mußte den Prager Verantwortlichen erst recht gelegen sein, nachdem die Sowjets ihnen im Sommer 1947 befohlen hatten, die Anmeldung ihres Landes zur Pariser Marshallplan-Konferenz zurückzuziehen - sich damit vom Westen ostentativ abzuwenden und auf amerikanische Wirtschaftshilfe zu verzichten. Bei dieser Gelegenheit wurde augenfällig, wie weit die Satellisierung der Tschechoslowakei bereits gediehen war. Einige Monate später, im Februar 1948, räumten die Kommunisten mit dem in Prag bisher aufrechterhaltenen pluralistischen Dekorum auf und etablierten sich offen als Alleinherrscher. Daraufhin initiierten die Vereinigten Staaten gegen die Tschechoslowakei eine westliche Ausfuhrsperre der als strategisch deklarierten Güter.
Durch Umgehungsgeschäfte über die Schweiz suchte sich Prag der Wirkung dieser Sanktionen zu entziehen. Der Erfolg solcher Bemühungen war indes von kurzer Dauer, denn die Schweiz geriet ihrerseits unter amerikanischen Druck und mußte sich Washingtons Embargo-Maßnahmen gegen die Tschechoslowakei de facto anschließen.
Der gewichtigste "Schutzbefohlene", dessen Anliegen die Schweiz in Prag hätte verfechten sollen, war nicht etwa ein schweizerischer Staatsbürger, sondern der Fürst von und zu Liechtenstein. Seine Regierung hatte die Vertretung liechtensteinischer Interessen gegenüber Drittstaaten bereits im Jahre 1920 der Schweiz anvertraut. Nirgends waren diese Interessen substantieller als in der Tschechoslowakei.
Nachdem das Fürstenhaus bereits durch die tschechoslowakischen Landreformmaßnahmen der Zwischenkriegszeit den größeren Teil seines mährischen und böhmischen Grundbesitzes eingebüßt hatte, waren ihm noch Ländereien in der Größenordnung von rund 650 km2 verblieben - mehr als viermal das Territorium seines voralpinen Kleinstaates. Die liechtensteinischen Entschädigungsansprüche wurden auf 343 Millionen Schweizer Franken damaligen Wertes veranschlagt, eine angesichts der tschechoslowakischen Devisenknappheit astronomische Summe. Um sich auf diese Forderung gar nicht einlassen zu müssen, verfiel Prag auf einen "eleganten" Ausweg: Man berief sich schlicht darauf, die Befugnis der Schweiz zur diplomatischen Vertretung Liechtensteins nie anerkannt zu haben.
Spätis Arbeit beruht auf der gründlichen Auswertung zumeist unpublizierter tschechoslowakischer und schweizerischer Quellen. Sie erschließt über weite Strecken Neuland und überzeugt durch Ausgewogenheit des Urteils. Eine energische Straffung wäre allerdings der Lesbarkeit der Darstellung gut bekommen.
PAUL STAUFFER
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.08.2001, Nr. 184 / Seite 7
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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.08.2001, Nr. 184 / Seite 7