Streithähne und Zankäpfel
Das Leben in den Vogteien Greifensee und Kyburg um 1500
Durch die Auswertung von Gerichtsakten erschliesst die Zürcher Historikerin
Katja Hürlimann die sozialen Beziehungen in den Vogteien Greifensee und
Kyburg am Ende des Mittelalters. Streitereien um Geld, gebrochene
Eheversprechen und Gerüchte geben Hinweise auf Wertvorstellungen,
Solidaritäten und Rivalitäten in den Zürcher Dörfern.
sbu. Kaplan Burkhart Kochenrübli von Greifensee hatte ein massives
Image-Problem: Um 1508 klagten seine Schäfchen gegen ihren religiösen
Hirten, weil der seit zwölf Jahren seine Tochter missbrauche und nach dem
Misten mit schmutzigen Händen über den Altar gestrichen sei. Durch die
Auswertung von Gerichtsakten erschliesst die Zürcher Historikerin Katja
Hürlimann den Alltag in der Zürcher Landschaft am Ende des Mittelalters.
Streitigkeiten wie die zwischen Kochenrübli und den Einwohnern von
Greifensee, die sich über ihren liederlichen Kaplan ärgerten, untersucht sie
auf ihre Aussagekraft für die Rekonstruktion des alltäglichen Lebens.
Konfliktkultur, Soziabilitätsformen sowie Soziabilitätsorte und
Kommunikation in der Zeit der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert sind das
Thema ihrer Dissertation «Soziale Beziehungen im Dorf». Im Anschluss an die
französische Soziabilitätsforschung widmet sich die Autorin darin der noch
wenig untersuchten ländlichen Gesellschaft Zürichs.
Meist ökonomische Motive
Die meisten der von Katja Hürlimann ausgewerteten Quellen verweisen auf
alltägliche Streitereien. Die Nutzung von Wegen und Allmenden, Erbschaften,
Schulden und sonstwie strittige Verträge erregten die Gemüter der Bauern in
den von ihr untersuchten Vogteien Greifensee und Kyburg am häufigsten. Ein
jahrelanger Streit um ein Waldstück bei Werrikon (Gemeinde Uster) erhellt so
die Beziehungen zwischen den Einwohnern von Werrikon und den ausserhalb
wohnhaften Ustermer «Ausholzgenossen». Durch die kritische Beobachtung und
Auswertung der Konflikte gelingt Hürlimann eine punktuelle Rekonstruktion
der mittelalterlichen ländlichen Gesellschaft.
Erst nach der Einführung der Möglichkeit zur Appellation vor dem Zürcher
Ratsgericht im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts waren die niederen
Gerichte öfters gezwungen, ihre Urteile schriftlich zu fassen. So wurde die
Basis gelegt, auf die sich Hürlimann in ihrer Dissertation berufen kann.
Dabei zeigt sie in den Überlegungen zur Funktion der schriftlichen gegenüber
der mündlichen Rechtstradition, was moderne Mittelalterforschung zu
leisten vermag. Hürlimanns scharfsinnige Untersuchung zeichnet sich unter
anderem dadurch aus, dass die Autorin offene Fragen und Ungereimtheiten
ihrer Quellen auszuhalten vermag. Statt bequeme Antworten zu liefern,
beharrt sie auf dem Faktum, dass sich die Vergangenheit nicht mehr
vollständig erschliessen lässt. In keinem Augenblick vergisst sie, wie
spezifisch der Blick auf die Gesellschaft sein muss, wenn man sich ihr über
Gerichtsakten annähert. Umso überzeugender sind die differenziert
gezeichneten Bilder der Auseinandersetzungen um divergierende
Normvorstellungen von Untertanen und Obrigkeit oder zu den oft ökonomischen
Hintergründen von Ehrverletzungen.
Nuanciertes Bild der Vergangenheit
Entgegen der Klischeevorstellung, dass die mittelalterliche Justiz
willkürlich und stets zugunsten der Obrigkeit geurteilt habe, zeigt
Hürlimann, dass die Gerichte verschiedentlich das renitente Verhalten der
Untertanen schützten. Die grundsätzliche Verschiedenheit der
spätmittelalterlichen Rechtskultur von der heutigen Justiz wird deutlich im
fehlenden Gewaltmonopol und in der wenig konfrontativen Prozessführung. Die
Gerichte waren darauf bedacht, Frieden zu stiften, indem sie möglichst
beiden Parteien teilweise Recht gaben und nach einem Ausgleich suchten.
Selbst Totschlag konnte am Ende des Mittelalters noch aussergerichtlich
beigelegt werden.
Aufschlussreich sind auch Hürlimanns Auswertungen der Akten des Zürcher
Ehegerichts. So weist sie nach, dass auf der Landschaft um 1500 noch
freizügiger gelebt und geliebt wurde als in der Stadt. In den Dörfern wurde
vorehelicher Geschlechtsverkehr auch dann toleriert, wenn dem Liebesakt
keine Hochzeit folgte. Anders sah die Situation allerdings aus, wenn die
Frau schwanger wurde. Entsprechend sind in den Gerichtsakten Eheversprechen
zu finden, die mit dem Vorbehalt verknüpft waren, dass Mann und Frau
heiraten würden - falls das Schäferstündchen Folgen haben sollte. In den
Akten über Streit und Zank in den Vogteien findet Hürlimann Bruchstücke aus
dem Alltag und rekonstruiert Szenen aus Wirtshäusern, Lichtstuben und
anderen öffentlichen Orten.
Katja Hürlimann: Soziale Beziehungen im Dorf. Aspekte dörflicher
Soziabilität in den Landvogteien Greifensee und Kyburg um 1500.
Chronos-Verlag, Zürich 2000. 341 S., Fr. 48.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung ZÜRICH 25.07.2000 Nr. 171 35