Monster oder Opfer?
Schweizer Gestapo-Agentin in Dichtung und Historiographie
Keine alltägliche Biographie: Eine Berner Arzttochter kommt 1932 als «Journalistin-Schriftstellerin» nach Deutschland, wird 1934 Informantin der Gestapo, im November 1938 in Paris als Spionin verhaftet, dort im April 1940 zum Tode verurteilt und im Juni begnadigt, um wenig später von der Gestapo inhaftiert und bis 1945 im Frauen-KZ Ravensbrück interniert zu werden. In den ersten Nachkriegsmonaten unterstützt sie aus eigener Initiative und mit einigem Erfolg die Briten bei der Jagd nach ehemaligem Lagerpersonal, wird aber von einstigen Mithäftlingen selbst angeklagt, in über 60 Fällen gemordet und bei Selektionen von Opfern mitgewirkt zu haben, so dass ein britisches Gericht sie am 3. Februar 1947 ein zweites Mal zum Tode verurteilt. Der Urteilsvollstreckung entzieht sie sich zwei Monate später durch Selbstmord.
Carmen Mory weckt bereits im Winter 46/47, während des Prozesses gegen das Personal von Ravensbrück, erhebliches Aufsehen: eine im Vergleich zu anderen Angeklagten sehr intelligente, mehrsprachige und elegante «Frau im Pelz», die von Zeuginnen als «Monster» und «Ungeheuer in Menschengestalt» beschrieben wird, was sie lauthals als «Lüge» quittiert. 1950 legte Joachim von Kürenberg mit «Bella Donna» einen ersten biographischen Roman über Mory vor, was ihm 1999 Lukas Hartmann nachtut; gleichzeitig erscheint eine wissenschaftliche Biographie der jungen Historikerin Caterina Abbati.
Lügengebilde
Das familiäre Umfeld wird von Abbati mit aufschlussreichen Details geschildert. Der Vater ist ebenso dynamisch wie arrogant, sprengt als Arzt in Adelboden die dörflichen Dimensionen und wird gar verdächtigt, seine Gattin ermordet zu haben. Carmen ist ihm auch charakterlich verbunden, doch ihre brutalen Intrigen gegen die Freundin des alternden Witwers führen zum Bruch. Auch mit ihren Schwestern und anderen Verwandten verkracht sie sich rettungslos. Die Zwanzigjährige gibt als Lieblingswunsch an, nicht auf das Geld schauen zu müssen, Sekt und Cocktail sind ihre Lieblingsgetränke, und der Wahlspruch lautet: «Tue, was du nicht lassen kannst.» Durch all die Jahre in der Schweiz und in Deutschland zieht sich das Band chronischer Geldsorgen, von Hochstapelei und Lüge, Erpressung, Unterschlagung und geradezu kleptomanischen Diebereien. Mory selbst spricht von ihrer «üblichen Gewohnheit, Ärzte nicht zu bezahlen». Für die Gestapo bespitzelt sie nicht nur den Verleger Emil Oprecht in Zürich und den emigrierten SPD-Politiker Max Braun in Paris, sondern sie denunziert regelmässig ihre engsten Freunde. Den eigenen Verlobten, Fritz Erler, zeigt sie als angeblichen Homosexuellen an; und umgekehrt verdankt sie ihren Aufenthalt in Ravensbrück auch dem begründeten Verdacht der Gestapo, die überführte Spionin sei in Frankreich begnadigt worden, weil sie denselben Erler belastet und damit dessen Hinrichtung zu verantworten hat.
Genusssüchtig und voller Träume oder vielmehr Ansprüche, ebenso anerkennungs- wie geltungsbedürftig, gelingt es Mory durch ihr sicheres und schlagfertiges Auftreten immer wieder, eine Rolle zu spielen, in höchsten NS-Kreisen ebenso wie unter britischen Offizieren. Auch Graf Moltke, Mitgefangener in Ravensbrück, zeigt sich beeindruckt vom Selbstbewusstsein der Schweizerin, die wegen ihrer Freimütigkeit im KZ den Übernamen «Beromünster» erhält - und schwere Prügelstrafen durch die Wärterinnen. Doch gleichzeitig dient sie sich als Blockälteste und Spionin gegen ihre Leidensgenossinnen an, wobei ihr Antibolschewismus und ihr gerade in der Selbstüberschätzung, in gewalttätiger Herrschsucht und offenem Rassismus durchaus nazistischer Geist Pate stehen. Das schweizerische EJPD will sich für diese «unerfreuliche» Bürgerin 1946 nicht engagieren: «Die Engländer sollen das Weib selbst zur Verantwortung ziehen.»
Caterina Abbati präsentiert das recht informative Quellenmaterial als gründliche historische Arbeit, stösst aber - vielleicht gerade deswegen - zur Analyse von Morys Faszinosum kaum vor. Kann Lukas Hartmanns Fiktion eine Persönlichkeit einholen, die in ihren eigenen Zeugnissen und wohl auch in der eigenen Wahrnehmung zwischen Dichtung und Wahrheit oft nicht unterschied? Der Schriftsteller hat auch Archivmaterial zu seiner Heldin konsultiert, wenn auch legitimerweise nicht mit Abbatis Gründlichkeit. So aber fällt Morys - vom eigenen Vater diagnostizierte - «defekte Ethik» weg, ihre früh einsetzenden Intrigen und Diebereien. Sie wird zur Verführten, die trotz Widerständen in ein sie überforderndes «Räderwerk» gerät, ein ewiges Opfer, zuerst des Vaters, zuletzt französischer Stalinistinnen. Darin folgt Hartmann Morys eigenen Rechtfertigungen, und ebenso soll ihr Verlobter Erler sie zur Spitzeltätigkeit genötigt haben - laut Abbati «eine hanebüchene Verdrehung der Wahrheit». Der Schriftsteller tut es gleichsam seinem Alter ego im Buch nach, dem Schweizer Generalkonsul in Hamburg, der das Belastungsmaterial einer Zeugin, die gegen Mory aussagt, ungelesen beiseite schiebt.
Helvetische Korrektheit
Hartmann ist nicht nur in den nachdenklichen Kommentaren des Konsuls präsent, sondern auch in der ersten Person Singular, wo er seine fiktiven Passagen ankündigt und wo er wiederholt seine Unfähigkeit deklariert, das zu beschreiben, was er beschreibt: den KZ-Alltag. Das ist gewiss ein Beweis helvetischer Korrektheit; allerdings befiehlt Wittgenstein etwas anderes, wenn man über etwas nicht sprechen kann. Das faszinierende Thema erlaubte das Schweigen jedoch nicht, und so legt Hartmann solides Handwerk vor, ein flüssig geschriebenes Buch ohne besondere Überraschungen: Rückblenden aus der Prozesszeit auf die Biographie, einige Träume, Anspielungen auf Morys Namensvetterin bei Bizet, reichlich Metaphern der Sinneswahrnehmung und einige obligate Seitenhiebe gegen die Schweizer Politik im Krieg. Klare, oft durchsichtige Motive lenken die Statisten - nur Carmen Mory selbst ordnet sich Hartmanns Logik nicht unter, muss unerklärlichen Stimmen in ihrem Inneren folgen und überrascht lieben, den sie soeben noch verachtet hat. Die Hilflosigkeit des Konsuls, der eine Schweizerin der geschilderten Verbrechen letztlich für unfähig hält, überträgt sich auf Hartmann. Mit der Macht der Fiktion reduziert er Mory auf ein Opfer, das von Männern «Zurichtung, Abrichtung, Hinrichtung» erfährt, anstatt dass er die psychologischen Facetten von Angst und Macht, Geltungsdrang und despotischer Willkür dichterisch erhellt.
Thomas Maissen
Caterina Abbati: Ich, Carmen Mory. Das Leben einer Berner Arzttochter und Gestapo-Agentin (1906-1947). Chronos, Zürich 1999. 264 S., Abb., Fr. 34.-.
Lukas Hartmann: Die Frau im Pelz. Leben und Tod der Carmen Mory. Roman. Nagel & Kimche, Zürich 1999. 336 S., Fr. 39.80.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.