Eine Flüchtlingsmutter
Lilly Volkart und ihr Heim in Ascona
«Lilly» und ihr Heim für Flüchtlingskinder im Tessin - Erinnerungen an einen
leuchtenden Stern in der dunklen Nacht der Nazi- und Kriegszeit! Das
Kinderheim an der Collina in Ascona, zuerst im Hesse-Haus und dann in der
Casa Bianca, ist in die Geschichte eingegangen. Dies bezeugt auch ein Buch
von Eveline Zeder.
Die 1897 in Zürich geborene Lilly aus der Winterthurer Familie Volkart
hatte schon unmittelbar nach Hitlers Machtantritt und dann besonders während
der Kriegszeit trotz finanziellen und anderen Schwierigkeiten aufopfernd und
selbstlos gegen geringe oder gar keine Bezahlung Kinder aus Familien
politischer und vor allem jüdischer Emigranten und Flüchtlinge aufgenommen
und auf einzigartige Weise betreut. Viele auch seelisch stark
beeinträchtigte Kinder fanden im Laufe der Jahre ihren Weg nach Ascona. Sie
hatten Schreckliches erlebt: Versteck, Flucht, Lager, Trennung von den
Eltern und anderen deportierten Familienangehörigen, Hunger, Gewalt, Krieg
und Tod. Lilly Volkart erzog sie einzig und allein nach ihrem Prinzip «mit
gesundem Menschenverstand und mit Liebe». Alle Kinder nannten sie «Lilly»
und durften ihr Du sagen. Alle mussten gehorchen, alle mussten helfen, und
alle durften in der Freizeit auf dem Spielplatz und im Garten herumtollen.
Dass das Kinderheim ein Ort der Ruhe war, lag an Lilly Volkarts
unvergleichlicher Gabe, zuhören zu können, die Probleme auf ihren
wesentlichen Kern zu reduzieren und das praktisch Notwendige zu sehen und
zu tun.
«Es galt die schwachen, ängstlichen, bleichen, verwanzten und verlausten
Mädchen und Buben zu pflegen und zu ernähren. Lilly Volkarts Blick richtete
sich auch auf ihre Tag- und Nachtträume, ihren durch die gewaltsame Trennung
und den Verlust der Eltern verursachten Schmerz . . . Annäherung und
Begegnung waren ihr wichtiger als saubere Hände und Kleider . . . Auf
natürliche Art verstand sie es, über soziale Unterschiede hinwegzusehen und
jedes Kind als individuelles Wesen dem Ganzen einzuordnen», heisst es in
damaligen Berichten und in heutigen Erzählungen von Zeitzeugen. Das
Kinderheim war eine Grossfamilie, kein unpersönlicher Massenbetrieb. Lilly
Volkart besorgte die Hausarbeiten und erzog die Kinder, mit denen sie oft
sang, tanzte, spielte und bastelte. Von der kleingewachsenen, aber
energischen Frau ging eine grosse Ausstrahlung aus. Nach dem Krieg und bis
zu ihrem Tod 1988 besuchten sie ehemalige Heiminsassen immer wieder. So
ist Lilly Volkart heute noch dank der liebevollen Erinnerung der ehemaligen
Heimkinder in der ganzen Welt ein Pluspunkt für die Schweiz.
Das sich auf viele persönliche Zeugnisse und Erinnerungen sowie auf amtliche
und private Berichte stützende Buch von Eveline Zeder ist auch eine
verdiente Würdigung der Leistungen des Schweizer Hilfswerkes für
Emigrantenkinder (SHEK), das einige Frauen 1933 in Zürich gegründet hatten
und das mit Hilfe seiner in der ganzen Schweiz aufgebauten Sektionen
imstande war, bis Ende 1947 nahezu 10 000 Kinder zu betreuen und vielen von
diesen das Leben zu retten.
Heinz Roschewski
Eveline Zeder: Ein Zuhause für jüdische Flüchtlingskinder. Lilly Volkart und
ihr Kinderheim in Ascona 1934-1947. Chronos-Verlag, Zürich 1998. 146 S.,
Fr. 34.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 25.01.1999 Nr. 19 29