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Ein Zuhause für jüdische Flüchtlingskinder

Lilly Volkart und ihr Kinderheim in Ascona 1934–1947

Broschur
1998. 150 Seiten, 30 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-905312-81-2
CHF 34.00 / EUR 19.50 
  • Kurztext
  • Autor/in
  • Einblick
  • In den Medien

Als im nationalsozialistischen Deutschland die Judenverfolgung begann, flohen Tausende von Menschen jüdischer Abstammung ins nahe Ausland. Wie mussten wohl Kinder das für sie Unverständliche erlebt haben: soziale Ausgrenzung und Gewalt, Flucht, Verelendung, Internierung, Deportation der Eltern und Geschwister, Krieg, Krankheit und Tod?
Bewegt durch die grosse Not gründeten 1933 zwanzig Frauen das Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder. Dieses unterstützte ein Spital für Flüchtlingskinder in Paris, organisierte Erholungsferien in der Schweiz und betreute 10'000 Kinder in Schweizer Familien und Heimen. Eines dieser Kinderheime befand sich in Ascona und gehörte der Zürcherin Lilly Volkart. «Diese seltsame Frau, wohl eine der besten Pädagoginnen, der man begegnen kann», nahm die gesundheitlich oder sozial besonders gefährdeten kleinen Flüchtlinge auf. «Sie löst diese Aufgabe mit einer bewundernswerten Hingabe, Selbstlosigkeit und Liebe. Zu jedem einzelnen Kind hat sie ihre persönlichen Beziehungen, und die Kinder spüren recht wohl diese Vertrautheit und Verbundenheit.» «Lilly», wie sie die Kinder nennen durften, war eine ganz und gar ungewöhnliche Heimleiterin. Wie eine grosse Familie wünschte sie sich ihr Heim, und sie wollte für die entwurzelten Kinder eine «Mutter» sein. So befand sie sich eher beim Kochen, Waschen oder Basteln und Spielen als hinter ihrem Schreibtisch. In ihren Ansichten über Erziehung war sie ihrer Zeit weit voraus. «Mag auch das Heim äusserlich nicht so Ðfadengeradeð sein wie manche deutsch-schweizerischen Heime. Sicher ist, dass man den Kindern gratulieren darf, die in dieser Atmosphäre leben dürfen», urteilte eine leitende Mitarbeiterin des Kinderhilfswerks.
Das Buch beschreibt den Weg eines typischen Flüchtlingskindes bei Lilly Volkart, der in Deutschland beginnt und über Frankreich in die Schweiz führt. Es geht kurz auf die schwierige Situation der Juden (nach 1933) in diesen Ländern ein - auch aus der Sicht der Kinder. Ein zweiter Teil ist dem Kinderhilfswerk gewidmet, dessen Zusammenarbeit mit Lilly Volkart die Betreuung der Kinder in Ascona ermöglichte und mitprägte. Doch Lilly Volkart selbst und ihr Wirken stellen den eigentlichen Schwerpunkt des Buches dar.

Textauszug

Myriam Cohn, ein jüdisches Mädchen aus Offenburg, lebte in den Jahren 1943­1945 im Kinderheim in Ascona. Sie hatte das Glück, mit ihrem Vater in England regelmässigen Briefkontakt unterhalten zu können. In einem Brief vom 2. September 1945 stellte sie ihm Lilly Volkart näher vor:

Vati! Hab ich Dir eigentlich schon mal erzählt, wer Lilly ist, das ist unsere Leiterin Lilly Volkart. [Š] Nun stellst du dir vielleicht vor, sie sei eine Directrice de home, wie ich sie von Frankreich aus kenne, die sich bloss au point de ou economique et intellectuell beschäftigt und den lieben langen Tag in ihrem Büro bleibt, Zigaretten raucht und Maschine tippt. Da irrst Du Dich aber genauso wie ich mich geirrt habe. Lilly tut alles (Ich sag ihr Du und nenne sie beim Vornamen) das tun aber viele Kinder, und sie hat mir sehr oft gesagt, dass sie nichts dagegen hat und dass ihr's ganz recht ist. So wie ich die Atmosphäre im Kinderheim verstand, habe ich die Lilly geduzt. Nun also Lilly arbeitet alles, alles. Es ist eine kleine za


Besprechungen

Eine Flüchtlingsmutter

Lilly Volkart und ihr Heim in Ascona

«Lilly» und ihr Heim für Flüchtlingskinder im Tessin - Erinnerungen an einen
leuchtenden Stern in der dunklen Nacht der Nazi- und Kriegszeit! Das
Kinderheim an der Collina in Ascona, zuerst im Hesse-Haus und dann in der
Casa Bianca, ist in die Geschichte eingegangen. Dies bezeugt auch ein Buch
von Eveline Zeder.
Die 1897 in Zürich geborene Lilly aus der Winterthurer Familie Volkart
hatte schon unmittelbar nach Hitlers Machtantritt und dann besonders während
der Kriegszeit trotz finanziellen und anderen Schwierigkeiten aufopfernd und
selbstlos gegen geringe oder gar keine Bezahlung Kinder aus Familien
politischer und vor allem jüdischer Emigranten und Flüchtlinge aufgenommen
und auf einzigartige Weise betreut. Viele auch seelisch stark
beeinträchtigte Kinder fanden im Laufe der Jahre ihren Weg nach Ascona. Sie
hatten Schreckliches erlebt: Versteck, Flucht, Lager, Trennung von den
Eltern und anderen deportierten Familienangehörigen, Hunger, Gewalt, Krieg
und Tod. Lilly Volkart erzog sie einzig und allein nach ihrem Prinzip «mit
gesundem Menschenverstand und mit Liebe». Alle Kinder nannten sie «Lilly»
und durften ihr Du sagen. Alle mussten gehorchen, alle mussten helfen, und
alle durften in der Freizeit auf dem Spielplatz und im Garten herumtollen.
Dass das Kinderheim ein Ort der Ruhe war, lag an Lilly Volkarts
unvergleichlicher Gabe, zuhören zu können, die Probleme auf ihren
wesentlichen Kern zu reduzieren und das praktisch Notwendige zu sehen und
zu tun.
«Es galt die schwachen, ängstlichen, bleichen, verwanzten und verlausten
Mädchen und Buben zu pflegen und zu ernähren. Lilly Volkarts Blick richtete
sich auch auf ihre Tag- und Nachtträume, ihren durch die gewaltsame Trennung
und den Verlust der Eltern verursachten Schmerz . . . Annäherung und
Begegnung waren ihr wichtiger als saubere Hände und Kleider . . . Auf
natürliche Art verstand sie es, über soziale Unterschiede hinwegzusehen und
jedes Kind als individuelles Wesen dem Ganzen einzuordnen», heisst es in
damaligen Berichten und in heutigen Erzählungen von Zeitzeugen. Das
Kinderheim war eine Grossfamilie, kein unpersönlicher Massenbetrieb. Lilly
Volkart besorgte die Hausarbeiten und erzog die Kinder, mit denen sie oft
sang, tanzte, spielte und bastelte. Von der kleingewachsenen, aber
energischen Frau ging eine grosse Ausstrahlung aus. Nach dem Krieg und bis
zu ihrem Tod 1988 besuchten sie ehemalige Heiminsassen immer wieder. So
ist Lilly Volkart heute noch dank der liebevollen Erinnerung der ehemaligen
Heimkinder in der ganzen Welt ein Pluspunkt für die Schweiz.
Das sich auf viele persönliche Zeugnisse und Erinnerungen sowie auf amtliche
und private Berichte stützende Buch von Eveline Zeder ist auch eine
verdiente Würdigung der Leistungen des Schweizer Hilfswerkes für
Emigrantenkinder (SHEK), das einige Frauen 1933 in Zürich gegründet hatten
und das mit Hilfe seiner in der ganzen Schweiz aufgebauten Sektionen
imstande war, bis Ende 1947 nahezu 10 000 Kinder zu betreuen und vielen von
diesen das Leben zu retten.

Heinz Roschewski

Eveline Zeder: Ein Zuhause für jüdische Flüchtlingskinder. Lilly Volkart und
ihr Kinderheim in Ascona 1934-1947. Chronos-Verlag, Zürich 1998. 146 S.,
Fr. 34.-.

Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 25.01.1999 Nr. 19 29