Stifte zwischen Kurie und Landesherrschaft
Eine Publikation zur Geschichte des Chorherrenstifts Embrach
Kriegszerstörungen und die Säkularisierung haben im Lauf der Jahrhunderte
beinahe alle Spuren getilgt, die an die kirchliche Vergangenheit Embrachs
erinnern. Eine kürzlich erschienene Untersuchung befasst sich mit dem im
11. Jahrhundert erstmals erwähnten Chorherrenstift Embrach und seinen
Chorherren.
Nur gerade das Gemeindewappen - zwei gekreuzte silberne Schlüssel,
Attribute des heiligen Petrus - erinnert an die bedeutende kirchliche
Vergangenheit Embrachs. Dort befand sich spätestens seit dem
11. Jahrhundert ein Chorherrenstift mit einer dem Petrus geweihten
Stiftskirche. Zerstörungen im Sempacher- und Alten Zürichkrieg sowie die
Säkularisierung 1524 zogen allerdings die Gebäulichkeiten und die
schriftliche Überlieferung so stark in Mitleidenschaft, dass die einstige
Stiftsherrlichkeit fast völlig in Vergessenheit geriet. Eine kürzlich
erschienene, an der Universität Zürich verfasste Dissertation der
Historikerin Béatrice Wiggenhauser setzt sich nun unter dem Titel «Klerikale
Karrieren - Das ländliche Chorherrenstift Embrach und seine Mitglieder im
Mittelalter» ausführlich mit dem Stift und seinen Chorherren auseinander.
Klerikale Lebensläufe
Trotz der insgesamt eher schwierigen Quellenlage versucht die Autorin einen
neuen, über die bisherigen institutionen- und wirtschaftsgeschichtlichen
Darstellungen hinausreichenden Zugang zum Stift Embrach zu finden. Im
Zentrum der Untersuchung stehen - als Vorbild dienen Forschungen zu den
Stiften in Zürich oder Zofingen - die Kleriker. In mühseliger Kleinarbeit,
die sogar das Vatikanische Geheimarchiv einbezieht, werden die Lebensläufe
sämtlicher 235 in Embrach nachweisbaren Chorherren und Bewerber verfolgt,
um so die Karrierenwege und -strategien aufzuspüren, die zum Erwerb der
begehrten (und knappen) Pfründen führten.
Den Schlüssel zum Verständnis der personellen Zusammensetzung eines Stiftes
bildet damit das Pfründenwesen. Pfründen garantierten den Klerikern ein
festes Einkommen und ökonomische Sicherheit bei bescheidenen
Verpflichtungen, waren aber ohne besondere Beziehungen praktisch
unerreichbar. Was aus heutiger Sicht abschätzig als Nepotismus oder
Klientelismus bezeichnet wird, gehörte im Mittelalter zu den unabdingbaren
Massnahmen im Kampf um eine soziale Stellung. Je einflussreichere Bekannte
und Verwandte man hatte, desto grösser war die Chance, an ertragreiche
Pfründen zu kommen. Die Arbeit von Wiggenhauser zeigt nun detailliert auf,
welche Möglichkeiten Bewerbern um eine Chorherrenpfründe in Embrach
offenstanden und wie erfolgreich deren Vorgehen im einzelnen war.
Durch Beziehungen zu Pfründen
Da Embrach als kleines Landstift verschiedensten Interessen ausgesetzt war,
mussten sich grundlegende politische und gesellschaftliche Entwicklungen des
Spätmittelalters auch im Stiftsalltag niederschlagen: Im 13. und
14. Jahrhundert vermochten sich vor allem Angehörige von habsburgischen
Ministerialenfamilien Pfründen zu sichern, da die österreichischen Herzöge
als landesherrliche Schirmvögte des Stiftes ihren Einfluss zur Entschädigung
ihrer Klientel ausnutzten. Mit der zunehmenden Bedeutung des päpstlichen
Provisionenwesens - der Papst behielt sich die Besetzung bestimmter
Pfründen vor - öffnete sich das Stift für Kleriker, die nicht aus der Region
stammten, aber über ausgezeichnete Beziehungen zur Kurie verfügten. Dieses
päpstliche Recht ging 1479 an die neue landesherrliche Obrigkeit in Zürich
über, die nun dafür sorgte, dass im ausgehenden Spätmittelalter nur noch
Geistliche aus der stadtzürcherischen Oberschicht einen Chorherrensitz in
Embrach erhielten.
Der Wandel in der personellen Zusammensetzung des Stiftes spiegelt so die
Geschichte einer für die Region wichtigen kirchlichen Gemeinschaft wider
und vermag die zahlreichen Lücken in der schriftlichen Überlieferung
wenigstens teilweise zu überbrücken. Auch wenn die prosopographische
Auswertung die Unterschiede zwischen Chorherren und Bewerbern manchmal
allzu stark vernachlässigt und Karrieren, Beziehungsnetze und Alltagsleben
etwas gar blass bleiben - ausführlichere Schilderungen einzelner
Klerikerschicksale hätten mehr Farbe in Pfründenwesen und
Familienstrategien gebracht -, leistet das Werk einen wichtigen Beitrag zur
Kirchen- und Regionalgeschichte. Mit der Verknüpfung von Personen,
Landesherrschaft und Kurie gewinnt nicht nur die Vergangenheit von Embrach
deutlichere Konturen, sondern auch die Funktion eines Landstiftes.
Peter Niederhäuser
Béatrice Wiggenhauser: Klerikale Karrieren. Das ländliche Chorherrenstift
Embrach und seine Mitglieder im Mittelalter. Chronos-Verlag, Zürich 1997.
650 S., Fr. 84.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung ZÜRICH 08.01.1998 Nr. 5 45