THOMAS WIDMER
DIE SCHWEIZ IN DER WACHSTUMSKRISE DER 1880ER JAHRE
CHRONOS VERLAG ZÜRICH 1992, 925 S., FR. 136.-
Ich habe mich noch nie mit einer Buchbesprechung so schwer getan wie mit der Besprechung der Dissertation «Die Schweiz in der Wachstumskrise der 1880er Jahre» von Thomas Widmer. Warum?
1. Wer den Titel hört, denkt sofort an die Problemkreise «Grosse Depression», «Organisierter Kapitalismus», erste «moderne Arbeitslosigkeit» und freut sich darauf, endlich auch über die schweizerische gesellschaftlich-wirtschaftliche Entwicklung dieser Zeit ins Bild gesetzt zu werden. Wer sich durch die 925 Seiten durchfrisst, gibt das Buch mit Hungergefühlen aus der Hand, weil er ausser einer eisern verschraubten Theoriekonstruktion und einem Wust meist zweitklassiger Quellenstellen nichts wirklich Nahrhaftes auf den Teller bekommen hat. 2. Wer selbst je eine Dissertation, Lizentiatsarbeit oder ähnliches geschrieben hat, weiss, wie viel Entbehrung, wie viel Energie hinter solchen Arbeiten stecken und dass es bald einmal einen point of no return gibt und die «Versuchsanordung» auch bei historischen Arbeiten nicht mehr geändert werden kann. So habe ich denn meine Hemmungen, sechs Jahre nachdem die Dissertation angenommen wurde und zwei Jahre nachdem sie publiziert wurde, meine Kritik anzubringen.
Welches war die «Versuchsanordung» von Thomas Widmer? Er ging von zwei eng verknüpften Hypothesen aus: 1. Perioden eines schnellen Wirtschaftswachstums beruhen auf einer Konstellation stabiler Strukturen (Gesamtheit von Verhaltensfunktionen und die zugehörigen Rahmenbedingungen, die ein berechenbares Handeln ermöglichen). Solche Wachstumsschübe haben im Laufe der Zeit destabilisierende Effekte und münden in eine Phase erhöhter Unsicherheit und Offenheit. 2. Der ökonomische Konjunkturzyklus ist in einen politischen und soziokulturellen Kontext eingebettet. Als Untersuchungsperiode wird die konjunkturelle Depressionsperiode 1878 bis 1885 gewählt, wobei nicht die wirtschaftliche Entwicklung im Zentrum steht, sondern «Prozesse struktureller Destabilisierung und Restabilisierung, die sich in Kultur, Politik und Gesellschaft manifestieren». Mit Struktur ist die selektive und anpassungsfähige Wahrnehmungskapazität des Menschen gemeint, so wie sich das Luhmann in seiner Theorie sozialer Systeme zurecht gelegt hat. Ohne auf Luhmann, Habermas, Simon usw. einzugehen, übernimmt der Autor die von Hansjörg Siegenthaler entwickelte Theorie wirtschaftlicher Entwicklung und sozialen Wandels. Thomas Widmer macht sich also zur Aufgabe, zu zeigen, wie die Rezession von 1878 bis 1885 kognitiv-mental verarbeitet wurde, welche Weltbilder aktiviert wurden, welches Krisenbewusstsein ausgebildet wurde. Er untersucht dabei Themenkomplexe wie die Schule - sehr ausgiebig -, die Innen- und Aussenpolitik, die Wirtschaft, die Verbandsbildung, den Abbau des Kulturkampfes, die Sozialreform und einige mediale Ereignisse wie die Landesausstellung von 1883 und die Nationalfest-Bewegung sowie die neue Nationalgeschichtsschreibung. Einige weltanschauliche Konzepte erfahren eine bevorzugte Behandlung, wie die antiliberalen und antikapitalistischen Strömungen und die moralische Restauration. Um all das zu behandeln, wird eine kommunikationstheoretisch orientierte Krisentheorie verwendet: «Die Krisenerklärung muss an einem Kontext von Systemstrukturen und Deutungsprozessen ansetzen.» Die Schweiz wird als nicht näher qualifiziertes «System» verstanden.
Dies alles leuchtet ein, und man ist beeindruckt vom Spektrum der aufgearbeiteten Artikulationen zur Rezession von 1878 bis 1885 und zum anschliessenden Wiederaufschwung. Woher kommt aber das schale Gefühl, das von Kapitel zu Kapitel zunimmt? Lassen Sie es mich mit einer Metapher sagen. Die Arbeit ist wie ein Riegelhaus, dessen eichernes Fachwerk mit schlechtem Mörtel gefüllt wurde. Das theoretische Gerüst der Arbeit harmoniert nicht mit dem empirischen Quellenmaterial. Widmer zermalmt sein ziemlich wahllos gesammeltes Material zu einer grauen Masse, die er dann ins Fachwerk seiner starren, unhistorisch angewandten Theorie abfüllt. Die theoretischen Sätze werden immer wieder wiederholt: «Neue Strukturkonstellationen sind epochenspezifisch, kontingent und prinzipiell der Möglichkeit des Scheiterns ausgesetzt.» Die Quellenaussagen haben sich dann dieser Theorieaussage zu fügen. Ein Vetorecht der Quellen gibt es nicht. Als Zeitzeugen kommen eigenartigerweise vor allem Schulmeister, Pfarrherren und Journalisten zu Wort, deren aus Distanz verfasste Reflexionen zum Zeitverlauf nicht wirklich interpretiert werden, weil ihnen nicht der Status von Subjekten zugebilligt wird. Zudem ist der Diskurs (im Sinne Foucaults) dieser professionellen Träger von Deutungsmacht ohne Entscheidungsverantwortung bei näherer Betrachtung meist sehr krisenfest.
Es gelingt Widmer nicht, seiner theoretischen Begrifflichkeit wirklich historische Bildkraft einzuhauchen. Bleiern reiht sich Hauptsatz an Hauptsatz, theoretische Aussage an empirische Aussage ohne Differenzierung und Mut zu hermeneutischen Finessen. Es wird nicht klar, was Wachstum, Rezession und Prosperität für die in der Schweiz lebenden Menschen zwischen 1870 und 1894 bedeuteten, wie Einkommenseinbussen, Arbeitslosigkeit, Zwang zur Mobilität, Betriebsschliessungen, Vermögensverluste kognitiv-mental verarbeitet wurden. Die leidenden, denkenden und handelnden Subjekte - Unternehmer, ArbeiterInnen, Hausfrauen, Beamte - kommen leider nicht zu Wort. Der «Arbeitslosigkeit» und dem «Konkurs» werden auch nicht die kleinsten Kapitel auf der fünften Stelle der Dezimalklassifikation gewidmet. Wären die gedruckten und ungedruckten Quellen der relevanten Akteure des «Systems Schweiz» recherchiert worden und als Zeugnis betroffener Subjekte zu Wort gekommen, wäre der Arbeit durchaus Erfolg beschieden gewesen. Eine theoretische Begrifflichkeit hat in den Geschichtswissenschaften nur einen Sinn, wenn sie historisch eingelöst werden kann, wenn sie am Quellenmaterial verzeitlicht werden kann.
Rudolf Jaun (Zürich)
Traverse 1994/3 (270-271)