Wider die Verdrängung der Völkermorde
Das Schicksal der Armenier als exemplarischer Fall
vmt. Während des Ersten Weltkriegs kam im Osmanischen Reich bei Massakern
ein grosser Teil der armenischen Bevölkerung ums Leben. Der Genozid wird vom
türkischen Staat bis heute geleugnet und nur von internationalen
Organisationen und wenigen Regierungen anerkannt. In einem Buch tritt der in
Zürich tätige Arbeitskreis Armenien dafür ein, sich solchen Verbrechen
entgegenzustellen. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er der Haltung der
Schweiz.
Kontroverse Geschichtsbilder
Die historischen Ereignisse, die als Völkermord an den Armeniern beklagt
werden, sind nicht auf Anhieb zu fassen. Die Türkei, in deren Gebiet sie
sich zutrugen, und die Armenier, die verschont blieben, stellen sie völlig
unterschiedlich dar, und auch in der Fachwelt besteht kein einheitliches
Bild. Als gesichert gilt immerhin genug Erschütterndes: 1915 liess die auf
der Seite der Mittelmächte im Krieg stehende türkische
Revolutionsregierung die armenische Minderheit in die syrische Wüste
deportieren, und dabei kam ein grosser Teil der Verschleppten ums Leben.
Eine ausser Kontrolle geratene Reaktion auf die schwankende Loyalität und
auf separatistische Aufstände in der armenischen Bevölkerung ist die Türkei-
freundlichere Erklärung, die Ausführung eines Vernichtungsplans mit dem Ziel
einer Vereinheitlichung der türkischen Gesellschaft ist die sehr
wahrscheinlich zutreffendere. Bereits unter dem letzten Sultan waren
Massaker an der armenischen Bevölkerung verübt worden, und auch nach dem
Krieg sollten die Massenmorde nicht enden. Die türkische Seite räumt die
Deportation ein und bestreitet nicht, dass diese mehrere hunderttausend
Opfer forderte. Sie rechtfertigt sie indessen als unumgängliche Massnahme
mit ungewollten Folgen. Armenier sprechen von über einer Million Toten und
werten es als Ungeheuerlichkeit, von unglücklichen Umständen zu sprechen.
Hintertriebene Anerkennung
Der Genozid an den Armeniern ist das Ausgangsthema einer Publikation mit
dem Titel «Völkermord und Verdrängung». Das Buch befasst sich ausser mit
dem Verbrechen selbst und dem Kampf um dessen Anerkennung vor allem mit dem
Phänomen Völkermord vor einem weiteren Horizont. In beiden Fällen bringen
die Herausgeber zudem die Haltung der Schweiz breit zur Sprache - man
könnte eigentlich von einer Studie über die Schweiz und das Problem des
Völkermords (an den Armeniern) sprechen. Der sorgfältig zusammengestellte
Band umfasst über ein Dutzend Beiträge von Experten aus verschiedenen Fach-
und Tätigkeitsgebieten. Der Zürcher Arbeitskreis Armenien, der sich in
vielfältiger Weise für armenische Anliegen einsetzt, will mit der
Publikation der Leugnung und Verdrängung von Genoziden im allgemeinen
entgegentreten.
Es klingt nüchtern, wenn die Herausgeber den Weg zur Anerkennung des
Schicksals der Armenier als steinig bezeichnen. Die Beiträge über den
Genozid und die Anstrengungen um dessen Verurteilung auf internationaler
Ebene und in der Schweiz lassen diesen Weg schon eher zermürbend
erscheinen. Trotz jahrzehntelangen Bemühungen haben bisher nur sehr wenige
Staaten den Völkermord verurteilt. Erst 80 Jahre nach der Deportation
erklärte ihn ein Unterausschuss der Uno-Menschenrechtskommission nach langem
Tauziehen und trotz massivem Druck von türkischer Seite zum historischen
Faktum nach der Definition der Uno-Völkermordkonvention. 1987 anerkannte ihn
das Europäische Parlament im selben Sinn.
Ein kurz nach Erscheinen des Sammelbands in der «Frankfurter Allgemeinen
Zeitung» veröffentlichter Bericht über die Verurteilung des Völkermords in
der französischen Nationalversammlung Ende Mai dieses Jahres vermerkt
bezeichnende Reaktionen der offiziellen Türkei: Gegen den Gesetzesentwurf
intervenierten mehrere hochrangige Vertreter bis hin zu Staatspräsident
Demirel; umgehend wurde mit Sanktionen gegen französische
Wirtschaftsinteressen gedroht, obschon Frankreich eben erst zum
strategischen Partner in Europa erklärt worden war und Demirel noch im
Februar einen Zusammenarbeitsvertrag mit der französischen Regierung
unterzeichnet hatte. Die Episode zeigt nicht nur, wie sehr die notabene erst
nach den letzten Massakern gegründete türkische Republik bis heute Mühe
hat, die damaligen Ereignisse zuzugeben. Sie illustriert auch die im Buch
vertretene Ansicht, dass das Land bisher das Haupthindernis im verzweifelten
Kampf um eine Verurteilung gewesen ist. Eine wichtige Rolle spielten und
spielen laut den Autoren aber auch politische und wirtschaftliche
(Einzel-)Interessen der anderen Staaten. Ihretwegen wurden schon die von den
Siegermächten anfänglich noch angedrohten Strafmassnahmen nie wahr gemacht.
Auswege aus dem Wiederholungszwang
Eine allgemeinere Auseinandersetzung mit Völkermord muss zum einen die
juristischen Anstrengungen gegen diese «Geissel des 20. Jahrhunderts» in
den Blick nehmen. Entsprechend wenden sich die Herausgeber der
Völkermordkonvention der Vereinten Nationen zu, die 1948 unter dem Eindruck
des paradigmatischen Einzelfalls, des Holocausts, zustande kam. Dabei wird
insbesondere das Problem der Reichweite dieses Übereinkommens deutlich: Auf
der einen Seite vermag sich heute kein Staat mehr dem darin gesetzten,
universell gültig gewordenen Recht zu entziehen. Auf der anderen Seite sind
der Verfolgung des Völkermords auf der Grundlage der Konvention gewisse
Grenzen gesetzt. Akut haben sich die Anwendungserschwernisse mit der
Einrichtung der Strafgerichte für das frühere Jugoslawien und für Rwanda
bemerkbar gemacht. Nicht von ungefähr mündete diese Erfahrung in die Debatte
um ein ständiges internationales Strafgericht für Verstösse gegen das
humanitäre Völkerrecht, dessen Einrichtung Ende Juli dieses Jahres eine
Sonderkonferenz der Uno in Rom beschlossen hat.
Wohl nicht zuletzt die Einsicht in die Grenzen des Völkerrechts hat einem
anderen Versuch zur Überwindung der Genozide zu Bedeutung verholfen: der
geschichtlichen Aufarbeitung. Die Historiker haben in dieser Sicht die
Verantwortung, dem Vergessen und dem Verdrängen ihre Erkenntnisse
entgegenzuhalten und auf der geschichtlichen Wahrheit zu bestehen. Sie
können auch typische mentalitätsgeschichtliche Wurzeln der Völkermorde
ausmachen, die, einmal freigelegt, Hinweise für nötige Umdenkprozesse geben
dürften. Allerdings läuft die historische Forschung damit Gefahr, zu einer
Instanz gemacht zu werden, die verbindliche Urteile fällt und so der
Rechtsprechung vorbehaltene Aufgaben übernimmt.
Sonderfall Schweiz?
Die Beiträge, die sich mit der Problematik aus dem schweizerischen
Blickwinkel befassen, entwerfen ein Bild, das sich kaum vom Verhalten der
meisten westlichen Demokratien unterscheidet, die zum Genozid an den
Armeniern bis heute ausser in internationalen Organisationen keine Stellung
beziehen mochten. Während hierzulande das Verbrechen wie schon die
vorausgehenden Massaker starke Resonanz fand, scheiterten die Versuche, die
Landesregierung und das Parlament zu einer formellen Verurteilung zu
bewegen. So zuletzt eine parlamentarische Anfrage an den Bundesrat von 1995
und kurz danach eine fast gleichlautende Petition an die eidgenössischen
Räte. Auch in der Schweiz machten sich offensichtlich türkische
Druckversuche und vor allem Rücksichten auf die Exportwirtschaft bemerkbar,
begleitet von formalistischen Einwänden und der Angst vor einer
Verschlechterung schon belasteter Beziehungen zur Türkei. Immerhin kam in
der Folge endlich Bewegung in die von der Landesregierung seit Jahren in
Aussicht gestellte, aber nie vollzogene Ratifikation der
Völkermordkonvention.
Der Band rührt auch im Bereich der Klärung der eigenen Geschichte an einen
Schwachpunkt, nämlich an die Widerstände in der Diskussion um die Rolle der
Schweiz im Zusammenhang mit dem Holocaust. Doch obschon er damit einen
einleuchtenderen Bogen schlägt, als er auf den ersten Blick erwarten lässt,
wird dieses Thema überraschend knapp ausgeführt. Vielmehr kehrt er wieder
auf eine allgemeinere Ebene zurück, zu den Voraussetzungen und zur
Bedeutung, welche die gegenwärtige Aufarbeitung der Geschichte des Zweiten
Weltkriegs nicht allein hierzulande, sondern auch in anderen europäischen
Ländern hat: Eine Klärung kann nur in einer offenen, demokratischen
Gesellschaft stattfinden. Auch diese vermag die Neigung zum Vergessen und
zur Verdrängung freilich nur durch eine intellektuelle und emotionale
Verarbeitung in einer breiten Öffentlichkeit zu überwinden. Und erst
solchermassen von alten Hypotheken befreit, wird sie sich der Zukunft
erfolgreich stellen können.
Arbeitskreis Armenien (Hg.): Völkermord und Verdrängung. Der Genozid an den
Armeniern - die Schweiz und die Shoah. Chronos-Verlag, Zürich 1998. 198 S.,
Fr. 32.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 03.11.1998 Nr. 255 49