Das Ringen um das Frauenstimmrecht
Der Weg zur politischen Gleichberechtigung in der Schweiz
In einer umfangreichen, bei Professor Peter Stadler entstandenen Zürcher
Dissertation nimmt sich Yvonne Voegeli der mühevollen Auseinandersetzungen
um die politische Gleichberechtigung der Frauen in der Schweiz von 1945 bis
zur Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts 1971 an. Nach einer
Darstellung des Umfeldes der Debatten über das Problem in einem ersten geht
die Verfasserin in einem zweiten Teil auf alle politisch Vorstösse seit dem
Postulat von Hans Oprecht vom 16. Juni 1944 ein und analysiert die beiden
Abstimmungsvorlagen von 1959 und 1971. Breiten Raum nimmt die Behandlung all
der relevanten politischen Geschäfte durch den Bundesrat und das Parlament
ein. In einem dritten Teil stellt die Autorin einerseits die Geschichte
des Frauenstimmrechtsvereins Zürich sowie des Schweizerischen Verbandes für
Frauenstimmrecht dar und geht anderseits der Argumentation der
Frauenstimmrechtsgegnerinnen detailliert nach. Auf rund zwanzig Seiten
beschreibt sie dann, wie die 1968 entstandene Frauenbefreiungsbewegung
(FBB) mit ihrer Forderung nach umfassender Gleichstellung von Frau und Mann
eine katalytische Wirkung auf den Prozess der Einführung der
Gleichberechtigung ausübte.
Das Scheitern von 1959
Die Analyse der politischen Meinungsbildung macht deutlich, dass nicht nur
der langwierige Prozess der direkten Demokratie, sondern auch eine gezielte
Verzögerungstaktik des Bundesrates und der Verwaltung dazu beigetragen hat,
dass die Schweiz die Gleichberechtigung als einer der letzten Staaten
eingeführt hat. Ins Reich der Legenden verweist Yvonne Voegeli die
Behauptung, das Parlament habe 1958 mit der Annahme der bundesrätlichen
Botschaft von 1957 der Einführung des Frauenstimmrechts zugestimmt. Durch
taktische Stimmenthaltung trugen Gegner der Vorlage dazu bei, dass eine
befürwortende Mehrheit im Parlament zustande kam. Sie wollten unbedingt eine
Volksabstimmung erwirken in der «offen geäusserten Hoffnung, die Vorlage
werde scheitern und der politische Alltag der nächsten Jahre von der
lästigen Gleichberechtigungsforderung der Frauen befreit sein». Dass der
Zeitgeist der späten fünfziger Jahre eine Teilhabe der für viele
unberechenbaren weiblichen Bevölkerungsmehrheit an der politischen Macht
nicht zuliess, war schon damals offensichtlich. Nicht nur in katholischen,
sondern auch in liberalen Kreisen wurde das konservative Gesellschaftsmodell
mit dem traditionellen Frauen- und Familienbild nach dem Zweiten Weltkrieg
als freiheitliche Alternative zum Kollektivismus der kommunistischen Welt
bewusst hochgehalten. Die Bedenken, mit der Einführung des Frauenstimm- und
-wahlrechts könnte sich gleichsam eine Pandorabüchse mit den Keimen der
Verderbnis öffnen, konnten durch alle gegenteiligen Beteuerungen der
Befürworterinnen und Befürworter nicht beseitigt werden.
Das Bild der Nur-Familienfrau
Beispiele für die Beschwichtigungstaktik von Frauen geben die beiden
untersuchten Frauenstimmrechtsorganisationen, von denen die eine kurz vor,
die andere kurz nach der Jahrhundertwende gegründet worden war. Sie
widersetzten sich der nicht nur bei Männern, sondern auch bei Frauen stark
verwurzelten Einteilung ihrer Geschlechtsgenossinnen in die Kategorien der
berufstätigen Fräuleins, der aus materieller Not erwerbstätigen Mütter
sowie der als Normalfall betrachteten Vollzeithausfrauen und Mütter nicht.
In beiden Frauenstimmrechtsvereinigungen, die nie eine grosse Zahl von
Mitgliedern zu mobilisieren vermochten, engagierten sich die
unverheirateten Akademikerinnen an vorderster Front. Sie waren vor allem
seit den zwanziger Jahren eine neue Gruppe von qualifizierten
Mitbewerberinnen in der Arbeitswelt, welche von den Männern als Konkurrenz
ernst genommen und gerade deshalb auf Distanz gehalten wurden. Die ledigen
Berufsfrauen mit Hochschulabschluss stellten die traditionelle Frauenrolle
nicht in Frage, beanspruchten aber selbstbewusst für sich gleiche Chancen
wie die Männer im Beruf und die Möglichkeit zur Mitentscheidung im Staat.
Ihre Forderungen wurden von vielen Männern und von verheirateten Frauen
nur allzu gerne als Kompensation für ihren, wie man fand, unbefriedigenden
Zivilstand abgetan.
Vorangehen der Romands
Da die vorliegende Dissertation von Yvonne Voegeli über 600 informative
Seiten umfasst, muss man akzeptieren, dass sie sich auf die erwähnten
Fragestellungen beschränkt hat. Zu einem umfassenden Verständnis der auch
heute noch bestehenden Vorurteile gegenüber Forderungen nach Gleichstellung
von Frau und Mann bedürfte es indessen einer weiteren historischen
Untersuchung über die Auseinandersetzung der in den Frauengruppen der
Parteien aktiven Mitglieder mit der Gleichberechtigung und ihre
Vorstellungen von der künftigen Position der Frauen in Familie, Gesellschaft
und Arbeitswelt. In den Parteiorganisationen waren nämlich die
verheirateten Frauen stärker vertreten als in den
Frauenstimmrechtsvereinigungen. Offen bleiben auch die Hintergründe der
Mentalitätsunterschiede zwischen Deutschschweiz und Romandie. Genf,
Neuenburg und die Waadt haben 1959 als einzige Kantone der Einführung des
Frauenstimm- und -wahlrechts auf eidgenössischer Ebene zugestimmt und den
Frauen die Gleichberechtigung auf kantonaler Ebene gewährt. Wie bei anderen
zentralen Fragen der jüngeren Geschichte bedauert man es auch beim
vorliegenden Thema, dass die Bearbeitung des umfangreichen Quellenmaterials
nicht in gegenseitiger Absprache an einer westschweizerischen und an einer
deutschschweizerischen Universität vergeben wurde. Die gleichzeitige und
koordinierte Erschliessung der Geschichte des 19. und des 20. Jahrhunderts
in den beiden grossen Landesteilen könnte viel zur besseren Verständigung
unter den Sprach- und Kulturregionen der Schweiz beitragen. Beim Thema
Frauenrechte würde besonders interessieren, ob die Gleichstellung von Frau
und Mann, die man in der Deutschschweiz 1971 mit der Gleichberechtigung zu
verhindern hoffte, in der Romandie 1959 und später je ein Thema gewesen
ist. Diese Frage stellt sich, da eine kürzlich im Auftrag des Bundesamtes
für Statistik erstellte Studie ergeben hat, dass in der Romandie und im
Tessin seit 1971 anteilsmässig weit weniger Frauen in Exekutivämter gewählt
worden sind als in der Deutschschweiz.
Katharina Bretscher-Spindler
Yvonne Voegeli: Zwischen Hausrat und Rathaus. Auseinandersetzungen um die
politische Gleichberechtigung der Frauen in der Schweiz 1945-1971.
Chronos-Verlag, Zürich 1997. 600 S., Fr. 78.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 23.08.1997 Nr. 194 93