Überfahrten
Das Leben der Margaretha Reibold (1809–1893) in Briefen
ZeitZeugnisse
Broschur
1998. 194 Seiten, 6 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-905312-83-6
CHF 34.00 / EUR 19.50 
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Im Jahr 1877 fordert der Basler Professor Heinrich Gelzer seine in Schaffhausen lebende Jugendfreundin Margrit Reibold auf, ihm in einigen Briefen ihr bewegtes Leben zu schildern. Was als Sonntagsbeschäftigung für eine einsame ältere Frau gedacht war, ergab im Laufe der nächsten zweieinhalb Jahre über zweihundert Briefseiten.
Zu Beginn fasst sich Margrit Reibold kurz. Lediglich einen Brief widmet sie ihren Jugendjahren in Schaffhausen und ihrer frühen Heirat mit einem Hallauer Lehrer. Mit dem plötzlichen Tod ihres Mannes aber beginnt für die erst fünfundzwanzigjährige Witwe mit drei kleinen Kindern ein wechselreiches Leben, das den grössten Teil der Autobiographie einnimmt: Aus finanziellen Gründen geht sie die Ehe mit dem deutschen Fabrikarbeiter Johann Reibold ein, mit dem sie in die Nähe von Karlsruhe zieht. Als Reibold im Zuge der badischen Revolution 1848 beschliesst, alleine nach Amerika auszuwandern, lässt sie ihn trotz ihrer sechs Kinder ziehen. «Dass ich meine Zustimmung so leicht und leichtsinnig gab, war der innerste sehnsüchtige Grund: dass ich keine Kinder mehr haben müsse», schreibt sie dazu.
Bis 1850 bestreitet Margrit Reibold daraufhin den Lebensunterhalt für ihre Familie mit Näharbeiten. Dann beschliesst sie, zusammen mit ihren Kindern die Überfahrt nach Amerika zu wagen, um nach ihrem Mann, der spurlos verschwunden scheint, zu suchen. Dies ist der Beginn eines längeren Lebensabschnittes, der geprägt ist von einsamen Jahren in Amerika, der Rückkehr nach Schaffhausen und einer erneuten Emigration.
Die in Briefen abgefasste Autobiographie ist «Abenteuerroman» und seltenes historisches Zeugnis zugleich. Die Perspektive der Autorin erlaubt Rückschlüsse auf Geschlechterverhältnisse, Familienstrukturen, Religiosität sowie Hintergründe und Auswirkungen von Migration im 19. Jahrhundert. Interessant ist aber auch der Prozess des Schreibens selbst, in welchem für Margrit Reibold «Vergnügen und Segen» liegt, so dass sie ihrem Briefpartner im letzten Brief schreibt: «Es tut mir fast leid, dass meine Aufgabe, Ihnen zu schreiben, hiermit zu Ende ist.»
Textauszug
Nach einigen Wochen erhielt ich einen Brief von St. Louis, von einem Kostherren meines Mannes, der meine Nachfrage in der Zeitung gelesen. Er schrieb, dass mein Mann längere Zeit bei ihm Ein- und Ausgegangen, dass er sehnlich auf eine Antwort auf seinen zweyten Brief gewartet. Er habe seinen Aufenthalt mit einer andern Stadt vertauscht und ihm, dem Kostgeber, seine Adresse angezeigt. Mein Brief sei auch wirklich angelangt. Er habe meinem Mann denselben zugeschikt, wie er aber später vernohmen, habe ihn mein Mann nie erhalten, da er in der Zwischenzeit mit einem amerikanischen Fabrikant nach Texas gereist sei. Ich schrieb dem Consul nach Orleans, dass er durch die Zeitungen dem ausgewanderten Reibold Kenntniss von seiner angekommenen Familie mittheile, was er auch that, denn das gedrukte Inserat legte er mir in seiner Antwort bei. Aber alles Suchen war vergebens. Ich fühlte mich so unglüklich in dem fremden Land ohne meinen Mann und hatte so ganz und gar keine geographischen Kenntnisse von dem Staat Texas, das

Besprechungen
Brief, Beichte Das Leben der Margaretha Reibold Am 31. März 1877 schlägt der Theologe und Historiker Heinrich Gelzer der betagten Freundin Margaretha Reibold aus Schaffhausen in einem Brief vor, sie solle ihm doch ihre Lebensgeschichte in einigen Briefen niederschreiben. Was für die Witwe als Sonntagsbeschäftigung gedacht war, sollte für Gelzer ein Dokument der aufrichtigen Selbsterforschung werden, «die Wahrheit ungeschminkt», Lebensbericht als Lebensbeichte, in der der Glaube immer stärker bleibt als das erfahrene Leid. Eine interessante diskursgeschichtliche Anordnung mithin, in der sich Brief, Beichte und weibliche Autobiographie die Hand reichen. Zwei Jahre lang schrieb Margaretha Reibold an Gelzer, sechzehn lange Briefe sind es geworden, in welchen sie ein abenteuerliches Leben in sonntäglich ruhiger Beschaulichkeit niederschreibt. Wie sie früh ihren ersten Mann verliert, sich mit drei Kindern allein durchschlägt, eine zweite Zweckehe eingeht, Kinder gebiert und verliert, ihrem Mann nach Amerika nachreist, ohne ihn zu finden, in die Schweiz zurückkehrt, wieder aufbricht, die Familie sich für kurze Zeit vereinigt, bevor der zweite Mann stirbt, sie durch Bürgerkriegswirren in Amerika reist, ihre verstreuten Kinder besucht, wieder in die Schweiz zurückkehrt, wo sie auch ihre jüngste Tochter verliert. Ein Leben voll Krankheit, Trennung, Leid, Entbehrung, fast kein Brief, in dem nicht jemand erkrankt oder gestorben ist. Dennoch nimmt die Schilderung glücklicher Tage überhand, dort hält die Briefschreiberin sich gerne auf, wird der Lebensbericht blumig und weiträumig, während die Todes- und Krankheitsfälle in kurzem Stakkato überstanden werden. Dass das Experiment gelingt, der Glaube die Trauer besiegt, verdankt sich in der Schilderung immer wieder den eingestreuten Bibelzitaten, auf die sich Margaretha Reibold beruft. Die Bibel ist ihr zu einer Art Tagebuch geworden, indem sie zu bestimmten Tagen den passenden Bibelvers gesucht, angestrichen und somit als aide-mémoire behalten hat. Sonst ist die Quellenlage für ihren Lebensbericht ungewiss, ausser einigen Briefen von ihren Kindern muss sie sich ganz auf ihr Gedächtnis verlassen haben. Aus dem Gedächtnis schreiben heisst immer auch abschweifen, zurückkehren, neu ansetzen, und in dieser Bewegung sind ihre Briefe auch literarisch interessant. Etwa ihre genauen Schilderungen anderer unglücklicher Ehen, für deren Ausführlichkeit sie sich Gelzer gegenüber entschuldigt, in denen aber deutlich wird, dass sie damit ihre eigene Schuld abzutragen versucht, die Schuld ihres protestantischen Bewusstseins, in ihrer Ehe nicht glücklich gewesen zu sein. Solches und mehr lässt sich auch zwischen den Zeilen dieser Briefe lesen, die von den Historikern Michael Gasser und Marianne Härri sorgfältig ediert und kommentiert nun als sowohl persönlich wie historisch interessantes «Zeitzeugnis» vorliegen. Silvia Henke Michael Gasser und Marianne Härri (Hg.): Überfahrten. Das Leben der Margaretha Reibold (1809-1893) in Briefen. Chronos-Verlag Zürich 1999. 194 S., Fr. 29.80. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ. Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON 18.05.1999 Nr. 112 66

Die Alltagsgeschichte hat Zugänge zu einem reichhaltigen Quellenkorpus erschlossen, dessen Aussagekraft oft unterschätzt oder gänzlich übersehen worden war. Es handelt sich dabei meist um Ego-Dokumente in der verschiedensten Form, seien es nun eigentliche Autobiographien, Briefe oder Rechenschaftsberichte über das eigene Leben, und zwar von Angehörigen aller gesellschaftlichen Schichten. Von diesem archivalischen Material ist nur ein Bruchteil ediert, und jeder Editionsentscheid muss sich angesichts der Fülle der hier vorhandenen Dokumente notwendigerweise auf eine Selektion von narrativ besonders kompakten Lebensbeschreibungen beschränken. Der Zürcher Chronos Verlag hat seit einigen Jahren solche Quelleneditionen in sein Programm aufgenommen und so einer breiteren Öffentlichkeit unter anderem den selbstverfassten Lebenslauf des «Ärbeeribuebs» Peter Binz (hg. von Albert Vogt, 1995) zugänglich gemacht. In diese Reihe sind auch die brieflichen Lebenserinnerungen der Margaretha Reibold (1809-1893) zu stellen, auf welche die Herausgeber während ihrer Mitarbeit an der Schaffhauser Kantonsgeschichte aufmerksam geworden sind. Bemerkenswerterweise stiessen sie zunächst nicht auf die 16 Originalbriefe - die sich heute im Staatsarchiv Schaffhausen befinden -, sondern auf deren Abschrift durch Nachfahren der Verfasserin, die sogar in zwei leicht variierenden Formen überliefert ist. Offensichtlich hat man sich in der weitverzweigten Verwandtschaft von Margaretha Reibold aktiv darum bemüht, die Erinnerung an deren Lebensgeschichte weiterzugeben, ein Umstand, der auf deren Aussergewöhnlichkeit auch für ihre Zeitgenossen hinweist und der bereits der Entstehung der Lebensschilderung zugrunde liegt. Margaretha Reibold beginnt auf die Aufforderung von Johann Heinrich Gelzer (1813-1889) hin zu schreiben, einem aus Schaffhausen stammenden und zum Zeitpunkt der Korrespondenz in Basel lebenden Jugendfreund, der als Historiker die Dozentenlaufbahn eingeschlagen hatte und als Herausgeber der «Protestantischen Monatsblätter für innere Zeitgeschichte» wirkte. Briefwechsel zwischen miteinander befreundeten Männern und Frauen waren seit der Aufklärung nicht unüblich, wobei Männer ihre Rolle zumeist darin sahen, die Frauen im Schreiben anzuleiten. Dass Gelzer seinen Schreibvorschlag an Margaretha Reibold als «eine mich erfreuende und Ihnen wohlthuende Sonntagsbeschäftigung» empfiehlt und unterstreicht, dass in die Lebensgeschichte nicht nur äussere, sondern auch innerliche Erlebnisse einfliessen sollen, verweist jedoch zusätzlich auf die pietistisch beeinflusste Tradition der Selbsterforschung. Im Wissen um die göttliche Vorsehung werden Erfahrungen, Gedanken und Gefühle ungeschönt dargestellt und geprüft, um darin das geheime Wirken Gottes zu erkennen. Die kritische Selbstreflektion wird auch den ständigen Bezugspunkt von Margaretha Reibolds Niederschrift bilden, indem sie Schicksalsschläge als erzieherische Eingriffe Gottes in Folge ihres eigensinnigen oder unrechten Verhaltens deutet. Trotz ihres bewegten Lebenslaufs, der gerade durch ihre ständige, durch die Lebensumstände erzwungene geographische Mobilität beeindruckt und von ihrem zweimaligen, langjährigen Amerikaaufenthalt geprägt ist, dominieren deshalb die inneren Sinngebungen des Erlebten die Schilderung, während Ereignisse in der Umwelt meist in knappster Form notiert werden. Die Korrespondenz ist in erster Linie darum bemüht, den eigenen Lebensgang zu deuten und rückt dadurch das Erzählen und Beschreiben der Aussenwelt in den Hintergrund. Margaretha Reibold-Mezger ist 68 Jahre alt, als sie in ihrem Schaffhauser «Witwenstübchen» im Frühjahr 1877 beginnt, schreibend auf ihr Leben zurückzublicken, eine Beschäftigung, der sie die nächsten zwei Jahre nachgehen wird. Die Tochter des Kantonsrats Bernhard Mezger schreibt zunächst über Erlebnisse aus ihren Jugendjahren in ihrer Heimatstadt Schaffhausen und über ihre frühe Heirat mit einem Hallauer Lehrer. Ausführlicher behandelt sie dann jenen wechselvollen Lebensabschnitt, der 1834 mit dem plötzlichen Tod ihres ersten Ehemanns beginnt. Besonders eindrucksvoll sind jene Passagen, in denen sie ihr Leben als verwitwete Mutter schildert, die erfolglos versucht, in Zürich ein eigenständiges Leben zu führen und sich schliesslich aus finanziellen Überlegungen gezwungen sieht, mit höchst zwiespältigen Gefühlen den Heiratsantrag ihres Pensionärs Niklaus Reibold anzunehmen. Ihre zweite Ehe führt sie in die Nähe von Karlsruhe; 1849 wandert ihr Mann von dort für zehn Jahre nach Amerika aus. Ein Jahr später reist ihm seine Frau mit fünf ihrer Kinder bis nach Louisville, Kentucky nach, ohne ihn zu finden. 1852 kehrt sie nach ergebnisloser Suche wieder nach Schaffhausen zurück, wobei zwei ihrer Kinder in Amerika bleiben. 1859 kehrt Niklaus Reibold aus Amerika zurück, wandert aber nach einem halben Jahr erneut dorthin aus. Im Jahr darauf reist ihm Margaretha Reibold, 50jährig, nach Jefferson, Texas nach. 1861 stirbt dort auch ihr zweiter Mann; sie selber bleibt noch weitere sechs Jahre in Amerika, wo zwei ihrer Kinder sterben. 1867 kehrt sie zusammen mit ihrer Nichte nach Schaffhausen zurück und verbringt dort ihren Lebensabend. Wie jede Autobiographie bieten sich die lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen der Margaretha Reibold für verschiedene Lesarten an. Die Herausgeber skizzieren in ihrer sorgfältigen Einleitung einige davon, halten sich aber in ihren Deutungen behutsam zurück. So lassen sie Raum für nachfolgende Bearbeitungen, zu denen diese wertvolle Quellenausgabe hoffentlich anregen wird. Simona Slanicka (Basel und Bielefeld) traverse - Zeitschrift für Geschichte - Revue d'histoire 2000 / 02

Diee Buchreihe ist aus der Idee erwachsen, relevante Quellentexte lebender und verstorbener Menschen sowohl der Forschung als auch einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Dabei kann es sich um Reprints vergriffener Berichte handeln, wie zum Beispiel «Im Lande des Blutes und der Tränen», ein Augenzeugenbericht des Völkermordes an den Armeniern, oder um Editionen von Tagebüchern und Briefwechseln.