Brief, Beichte
Das Leben der Margaretha Reibold
Am 31. März 1877 schlägt der Theologe und Historiker Heinrich Gelzer der
betagten Freundin Margaretha Reibold aus Schaffhausen in einem Brief vor,
sie solle ihm doch ihre Lebensgeschichte in einigen Briefen
niederschreiben. Was für die Witwe als Sonntagsbeschäftigung gedacht war,
sollte für Gelzer ein Dokument der aufrichtigen Selbsterforschung werden,
«die Wahrheit ungeschminkt», Lebensbericht als Lebensbeichte, in der der
Glaube immer stärker bleibt als das erfahrene Leid. Eine interessante
diskursgeschichtliche Anordnung mithin, in der sich Brief, Beichte und
weibliche Autobiographie die Hand reichen. Zwei Jahre lang schrieb
Margaretha Reibold an Gelzer, sechzehn lange Briefe sind es geworden, in
welchen sie ein abenteuerliches Leben in sonntäglich ruhiger
Beschaulichkeit niederschreibt.
Wie sie früh ihren ersten Mann verliert, sich mit drei Kindern allein
durchschlägt, eine zweite Zweckehe eingeht, Kinder gebiert und verliert,
ihrem Mann nach Amerika nachreist, ohne ihn zu finden, in die Schweiz
zurückkehrt, wieder aufbricht, die Familie sich für kurze Zeit vereinigt,
bevor der zweite Mann stirbt, sie durch Bürgerkriegswirren in Amerika
reist, ihre verstreuten Kinder besucht, wieder in die Schweiz zurückkehrt,
wo sie auch ihre jüngste Tochter verliert. Ein Leben voll Krankheit,
Trennung, Leid, Entbehrung, fast kein Brief, in dem nicht jemand erkrankt
oder gestorben ist. Dennoch nimmt die Schilderung glücklicher Tage überhand,
dort hält die Briefschreiberin sich gerne auf, wird der Lebensbericht blumig
und weiträumig, während die Todes- und Krankheitsfälle in kurzem Stakkato
überstanden werden.
Dass das Experiment gelingt, der Glaube die Trauer besiegt, verdankt sich in
der Schilderung immer wieder den eingestreuten Bibelzitaten, auf die sich
Margaretha Reibold beruft. Die Bibel ist ihr zu einer Art Tagebuch geworden,
indem sie zu bestimmten Tagen den passenden Bibelvers gesucht, angestrichen
und somit als aide-mémoire behalten hat. Sonst ist die Quellenlage für ihren
Lebensbericht ungewiss, ausser einigen Briefen von ihren Kindern muss sie
sich ganz auf ihr Gedächtnis verlassen haben.
Aus dem Gedächtnis schreiben heisst immer auch abschweifen, zurückkehren,
neu ansetzen, und in dieser Bewegung sind ihre Briefe auch literarisch
interessant. Etwa ihre genauen Schilderungen anderer unglücklicher Ehen,
für deren Ausführlichkeit sie sich Gelzer gegenüber entschuldigt, in denen
aber deutlich wird, dass sie damit ihre eigene Schuld abzutragen versucht,
die Schuld ihres protestantischen Bewusstseins, in ihrer Ehe nicht glücklich
gewesen zu sein. Solches und mehr lässt sich auch zwischen den Zeilen
dieser Briefe lesen, die von den Historikern Michael Gasser und Marianne
Härri sorgfältig ediert und kommentiert nun als sowohl persönlich wie
historisch interessantes «Zeitzeugnis» vorliegen.
Silvia Henke
Michael Gasser und Marianne Härri (Hg.): Überfahrten. Das Leben der
Margaretha Reibold (1809-1893) in Briefen. Chronos-Verlag Zürich 1999.
194 S., Fr. 29.80.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON 18.05.1999 Nr. 112 66