Sehnsucht Himalaja
Dissertation über Bergsteigerreiseberichte
Bergsteigerexpeditionen in den Himalaja gehören mit zu den faszinierendsten
Erscheinungen im Alpinismus des 20. Jahrhunderts. Seit 1921, als eine
englische Expedition erfolglos die Besteigung des Mount Everest versuchte,
sind Tausende von Bergsteigern und Bergsteigerinnen zu den höchsten Gipfeln
der Welt aufgebrochen und haben Hunderte von Reiseberichten über ihre
Erfahrungen und Erlebnisse verfasst. Eine repräsentative Auswahl von 84 in
den Jahren 1922 bis 1992 erschienenen deutschsprachigen Reiseberichten wurde
am Geographischen Institut der Universität Zürich analysiert.* Nachfolgend
greift der Autor einige Ergebnisse aus seiner Untersuchung heraus und
bezieht dazu Stellung.
Dramatische Ereignisse vermochten das Interesse der breiten Öffentlichkeit
an den Himalaja- Expeditionen bereits in den dreissiger Jahren zu wecken.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erbrachte der Himalajismus dann sensationelle
Erstbesteigungen, und manche der Bücher, die die Bergsteiger über ihre
Erfolge und Niederlagen verfassten, fanden reissenden Absatz. Die
Reiseberichte von Autoren wie Paul Bauer, Edmund Hillary, Reinhold Messner
und anderen füllen heute ganze Bibliotheken. In ihrer Fülle an Diskursen -
d. h. an Berichten, Stellungnahmen und Reflexionen - dokumentiert diese
Literatur einen spannenden und wenig erforschten Ausschnitt der
abendländischen Kultur- und Tourismusgeschichte.
Himalaja - Weg und Ziel
Themen wie «Wildnis», «Entdeckung» oder «Bergtod» prägen die Diskursfelder
und Symbolkomplexe der umfangreichen himalajischen Literatur. Greifen wir
ein Beispiel heraus: die Erörterungen der Bergsteiger über den Gipfel, rein
äusserlich gesehen das primäre Ziel bergsteigerischen Tuns in der
Landschaft. «Alles oder nichts», kleidete 1952 der Annapurna-Bezwinger
Maurice Herzog seinen Drang nach dem Berg in Worte und fügte entschlossen
hinzu: «Wir kommen erst wieder herunter, wenn wir den Gipfel bezwungen
haben.» Und auch Reinhold Messner betonte 27 Jahre später in ähnlichem Sinn:
«Jetzt ist es allein dieser Punkt, in dem alle Linien zusammenlaufen, der
Endpunkt, der mich magisch anzieht.» Damit stellt sich die Frage, weshalb
Maurice Herzog, Reinhold Messner und die vielen Gleichgesinnten auf die
höchsten Gipfel der Erde strebten. Die Bergsteiger vermögen uns oft keine
direkte Antwort auf diese Gretchenfrage nach dem «Warum» zu geben, doch die
Analyse ihrer Diskurse ermöglicht dennoch weitergehende Erklärungen. Bei
vielen Autoren zeigt sich, wie der Aufstieg zum Berg und die Bezwingung des
Gipfels einem einfachen Weg-Ziel-Schema folgen. Das Bergsteigen präsentiert
sich als unzweideutige Aufgabe - wo sonst bietet unsere Gesellschaft derart
klare und einfache Handlungsmöglichkeiten? Der Gipfelaufstieg gibt das
Versprechen für den Ausweg aus der Unübersichtlichkeit des urbanen Alltags.
Das Bergsteigen lockt als ganzheitliche Tätigkeit, in der Körper und Geist
offenbar zur Einheit finden. Der Himalajismus erscheint als eine wenigstens
temporäre Alternative zum entfremdeten Alltag moderner Gesellschaften.
Dougal Haston brachte dies 1971 bei der Erstdurchsteigung der
Annapurna-Südwand zum Ausdruck: «Nun fühlte ich mich wieder in meinem
Element. Ich lebte inmitten der Dinge, die ich am meisten liebte: gewaltige
Berge, eine wilde Umgebung, schwierige Klettereien, Körper und Geist völlig
im Einklang mit der herrschenden Situation.» Und schliesslich besitzen die
Gipfelbesteigungen im Himalaja auch noch eine symbolische Komponente, die
etwas mit unserem abendländischen Naturbegriff zu tun hat. Bei seinem
Gipfelsieg erobert der Bergsportler für sich persönlich immer auch ein
kleines Stück konkreter Natur und findet darin Momente der Selbsterfahrung.
So zog es Walter Bonatti auf die Gipfel, weil er dort oben seine «wahre
Natur» entdeckte und zu sich «selbst zurückfand».
Gipfel als Illusion?
Viele Himalajabergsteiger verfielen in eine mehr oder minder tiefe
Depression, nachdem sie den ersehnten Gipfel bezwungen hatten. So war für
Kurt Diemberger die Spitze des Broad Peak der Höhepunkt eines
Bergsteigerlebens; daraufhin verblasste das Traumbild: «Es ist so still.
Ich bin müde und allein.» Dies verweist auf ein psychologisches Phänomen:
Mit dem Gipfelsieg zerfällt die Ich-Identität, und kaum oben muss das
Individuum bereits die Frage nach dem nächsten Ziel stellen. Die Bergspitze
erweist sich als eine «seelische Absturzkante», wie es der
Bergsteigerpsychologe Ulrich Aufmuth ausdrückte. Einmal erklommen, bietet
der Gipfel nicht mehr viel, und die eigentliche Erlebnisqualität liegt ganz
offensichtlich bereits in der euphorischen Erwartung vor der Besteigung.
Entpuppt sich die Suche nach dem Bergziel als endloser Prozess ohne
Resultat? Der Extrembergsteiger Reinhard Karl prägte dazu den bekannten
Satz: «Den wirklichen Gipfel werde ich nie erreichen.»
Einige der jüngeren Bergsteigerautoren scheinen die Hoffnung zu hegen, oben
auf dem Berg zu endgültigen Erkenntnissen zu finden. Stehen sie auf dem
Gipfel dem Sinn des Lebens vielleicht näher als anderswo? Immerhin
postuliert der Philosoph Peter Sloterdijk die Verwandtschaft zwischen
Bergsteigen und Philosophie. Gemeinsam dürfte den beiden Metiers jedenfalls
sein, dass beide - Philosophie wie Bergsteigen - ihren metaphorischen
Gipfel nie erreichen werden.
Als bemerkenswerte Tatsache zeigen sich in der modernen Phase des
Himalajismus auffällige Brüche - jedenfalls gemessen an bisherigen
Selbstverständlichkeiten. Hatte noch in der himalajischen Klassik
(1945-1969) jede Erstbesteigung ihren zivilisatorisch-symbolischen Wert,
wollte sich Reinhard Messner im modernen Himalajismus (ab 1970) aus der
Geschichte verabschieden. 1979 schrieb er in seinem Mount-Everest-Buch, es
gehe ihm nicht mehr darum, irgendeine Tat zu vollbringen, von der auch die
nächste Generation noch spreche: «Zu gut weiss ich, dass alles vergessen
wird, und ich finde das auch richtig. Mir geht es um das Hier und Jetzt.»
Dieses und andere Zeugnisse Messners zeigen, wie sich die frühere kollektive
Motivation als Triebfeder der Expeditionen innert weniger Jahrzehnte
verändert und teilweise aufgelöst hat. An die Stelle der Bergbesteigung im
Sinne technischen und gesellschaftlichen Fortschritts und für das Vaterland
treten das persönliche Erlebnis und die individuelle Selbsterfahrung. Statt
«Entdeckung» lautet die Motivation nun «Selbstentdeckung».
Da erscheint es nur folgerichtig, dass Messner noch einen Schritt weiterging
und sich vom «Grundübel der Philosophie und Moral» befreite. Das
Aneinanderreihen von logisch gedachten Thesen sei nicht sein Weg der
Selbstfindung. Die aus Messners Zitat ersichtliche bergsteigerische Abkehr
von einem reflexiv-philosophischen Anspruch bedeutet allerdings nicht
weniger als die Ablehnung der abendländischen Metaphysik. Der himalajische
Diskurs gerät damit - zumindest beim Erfolgsautoren Messner - in ein
historisches Paradoxon. Der Diskurs richtet sich nun gegen jene
Denktraditionen, in deren Gefolge aufklärerische Entdeckungsideen,
romantische Naturbegeisterung und schliesslich der Alpinismus sich erst zu
entwickeln vermochten. Die Untersuchung von himalajischen
Bergsteigerreiseberichten fördert manch Spannendes und Unerwartetes, aber
auch viel Unbewusstes der Bergsteigenden zutage. Über bisherige
Gewohnheiten hinaus drängt es sich wohl inskünftig auf, verstärkt über die
Ursachen und Konsequenzen der eigenen Natursehnsucht im Himalajismus
nachzudenken.
Dominik Siegrist (Zürich)
* Dominik Siegrist: Sehnsucht Himalaja. Alltagsgeographie und Naturdiskurs
in deutschsprachigen Bergsteigerreiseberichten. Chronos-Verlag 1996. ISBN
3-905311-93-3, Fr. 58.-; Publikation unterstützt durch die Schweiz.
Stiftung für alpine Forschungen (SSAF).
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung ALPINISMUS 10.10.1996 Nr. 236 65