Sonderfall Tessin
Nationale Erziehung in Lesebüchern
gew. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Kulturelle Vielfalt und
nationale Identität» sind am Schweizerischen Jugendbuchinstitut drei
Studien entstanden, die sich mit dem Thema «Historische Jugendbücher und
Lesebücher in der Schweiz» auseinandersetzen. Zwei der Arbeiten beschäftigen
sich mit Texten aus beinahe dem gesamten Bundesgebiet (vgl. NZZ 20. 3. 96),
eine Untersuchung jedoch ist ausschliesslich den Lesebüchern im Tessin
gewidmet. Und das hat seine Gründe.
Denn wie Doris Senn in ihrer Studie «Bisogna amare la patria come si ama la
propria madre. Nationale Erziehung in Tessiner Lesebüchern seit 1830»
feststellt, hat sich kein Kanton so intensiv mit seiner Identität (regional
und national) auseinandergesetzt wie das Tessin. Diese Tatsache fand auch
ihren Niederschlag in den offiziellen Schullesebüchern. Den Hauptteil ihrer
Studie hat Doris Senn den Lesebüchern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
gewidmet. Dabei machte sie einige äusserst interessante Entdeckungen: etwa
jene, dass der «Soldat» gerade wegen der mehrheitlich äusserst
distanzierten Haltung der Tessiner(innen) zur Schweizer Armee zu einer
wichtigen Symbolfigur für Vaterlandsliebe wurde; oder dass viele Texte der
Lesebücher der «Ära Tosetti» (1900 bis 1940) das Thema kulturelle Identität
durch politisch aktuelle Stellungnahmen auf einer abstrakten Ebene
reflektierten. Ein echter Sonderfall unter den Schweizer Lesebüchern dieser
Zeit.
Doris Senn: Bisogna amare la patria come si ama la propria madre. Nationale
Erziehung in Tessiner Lesebüchern seit 1830. Chronos-Verlag, Zürich 1994.
176 S., Fr. 24.80.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON 22.05.1996 Nr. 117 47