Anpassung, Abschottung, Widerstand
Die Schweizer Germanistik und der Nationalsozialismus
Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um nachrichtenlose Vermögen und
geleistete oder unterlassene Flüchtlingshilfe zeigen, dass die Rolle, die
die Schweiz in den Jahren 1933-1945 gespielt hat, noch längst nicht
erschöpfend analysiert ist. Eine bemerkenswerte Studie zu einem Teilaspekt
der Problematik legt der junge Germanist Julian Schütt vor. Die Geschichte
der Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus
ist sein Thema. Schütt erzählt sie auf der Basis akribischer Forschung, mit
solidem wissenschaftlichem Apparat und gleichwohl geradezu munter. Er
porträtiert die Schweizer Germanisten der Epoche anschaulich und schildert
ihre Haltung gegenüber dem Dritten Reich mit polemischer Verve.
Relativ einfach liegt der Fall bei der Gruppe um Adolf Frey, Robert Faesi,
Gottfried Bohnenblust und Otto von Greyerz. Sie traten bei aller
traditionsbedingten Deutschfreundlichkeit für die Neutralität der Schweiz
ein. Faesi, der weltläufige Grossbürger und wertkonservative Literat, der
mit Thomas Mann im Briefwechsel stand und sich keinen Auftritt als
Festredner entgehen liess, hatte zudem schon 1917 mit seinem «Füsilier Wipf»
einen Roman verfasst, der 1938 in der Verfilmung von Leopold Lindtberg zum
Inbegriff der geistigen Landesverteidigung werden sollte. - Einen
populistischen Patriotismus vertrat Fritz Ernst, der unermüdliche Prophet
der «Helvetia mediatrix». Seine Position trug ihm nicht nur eine erbitterte
Fehde mit Charles-Ferdinand Ramuz, sondern nach langem Warten doch noch
einen Lehrstuhl ein, der wohl ebenso die Gesinnung wie das essayistische
Werk des vergleichenden Literaturwissenschafters honorierte.
Karl Schmids Position
Von besonderem Interesse ist die Position Karl Schmids. 1939 stand der
32jährige vor der Entscheidung, Privatdozent zu werden oder einem Ruf in
den Generalstab zu folgen. Schmid entschied sich für die militärische
Laufbahn und erwies sich durch seine integre, senkrechte Haltung als
wesentliche Stütze der Sektion «Heer und Haus». Nüchterne Aufklärung über
die Erfordernisse der Landesverteidigung war hier seine Hauptaufgabe. 1943
wurde Schmid Literaturprofessor an der ETH Zürich; schon frühe Zeugnisse
belegen seine Distanz zu den «ästhetischen Wasserkünsten» des berühmten
Kollegen Emil Staiger an der benachbarten Universität.
Komplizierter liegt der Fall bei Emil Ermatinger (1873-1953), dem
akademischen Lehrer Staigers und Schmids. Der ehrgeizige Kleinstädter
suchte sich auch in Deutschland zu etablieren, drang aber mit seiner
Germanophilie nicht über Fachkreise hinaus. Während der dreissiger Jahre
liess er sich - wie auch Faesi und Bohnenblust - gern zu Festvorträgen und
Jubiläumsfeiern nach Deutschland einladen, ohne zu durchschauen, wie er von
der Propagandamaschinerie der Nazis instrumentalisiert wurde. Besonders
kompromittierend war ein Auftritt Ermatingers bei den «Deutschen Christen»
in Eisenach (Oktober 1937), welche in Hitler den «gottgesandten Führer»
sahen, zu «bedingungsloser Gefolgschaft» aufriefen und alle dissidenten
Strömungen erbittert bekämpften.
Ermatinger wurde in der nationalsozialistischen Presse für seine «mannhaften
Worte» gelobt, während Schweizer Zeitungen von politischer Blindheit
sprachen. Die Universität Zürich reagierte, indem sie Ermatinger 1938 dem
Anciennitätsprinzip zum Trotz nicht zum Rektor wählte. Das brachte den
Professor keineswegs dazu, seine Position zu revidieren. Im gleichen Jahr
ergänzte er die dritte Auflage seines Werks «Das dichterische Kunstwerk» um
üble nazistische Passagen. Der deutsche Roman sei «durch jüdische
Schriftsteller mit sexuellen oder verdauungsphysiologischen Unflätigkeiten
aller Art beschmutzt worden», kann man da etwa - mit Hinweis auf Döblins
«Berlin Alexanderplatz» - lesen.
Das Zitat erinnert fatal an Emil Staigers drei Jahrzehnte später
formulierten Satz, die Gegenwartsliteratur wimmle «von Psychopathen, von
gemeingefährlichen Existenzen, von Scheusslichkeiten grossen Stils und
ausgeklügelten Perfidien», mit dem der Gelehrte 1966 ohne Not und sehr zum
eigenen Schaden den Zürcher Literaturstreit vom Zaum brach. Wie aber
verhielt sich der prominenteste Vertreter der textimmanenten Interpretation
in den dreissiger Jahren? - Schütt beschreibt das Mitwirken des damals
25jährigen Dozenten im «Gau Zürich» der Nationalen Front eingehend, ohne es
zu dämonisieren, und zeigt auch, dass der «zornige Erneuerungsgestus»
durchaus salonfähig war, zumal Staiger Distanz zu den kriminellen
Aktivitäten der Bewegung hielt, aber diese durch sein Mitmachen gleichsam
nobilitierte. In Staigers früher Schrift «Dichtung und Nation» (1933)
schlägt sich nach Schütt «Staigers frontenfaschistischer Elan eklatant
nieder». Nach dem erwähnten Zürcher Literaturstreit von seinem ehemaligen
Schüler Peter Szondi in einen brieflichen Disput über diesen Text
verwickelt, rang Staiger sich zu zaghafter Selbstkritik durch, blieb aber
bei der Einschätzung, der Nationalsozialismus sei bloss eine «extreme
Reaktion auf ein Extrem» (nämlich die Weimarer Republik) gewesen. Für
weitere Aufregung sorgte Staiger im Februar 1936 durch einen Brief an Thomas
Mann, dem er dessen Engagement für die Exilliteratur vorhielt; der Brief ist
in Thomas Manns Tagebuch als «durch Dummheit und Dreistigkeit sehr
unangenehm» vermerkt.
Es gab indes auch eine Schweizer Germanistik, die sich für die in
Deutschland verfemten Autoren engagierte. In erster Linie ist hier Walter
Muschg zu nennen, der vierschrötige Aussenseiter, der sich mit einer Arbeit
über Albrecht Schaeffers «Helianth» habilitiert hatte, der schon früh - und
gegen massive fachinterne Widerstände - Freud als Theoretiker für die
Literaturwissenschaft entdeckt und 1931 eine bahnbrechende Gotthelf-
Monographie vorgelegt hatte.
Muschg, ein spätexpressionistisch bewegter Eiferer, der sich politisch in
Duttweilers «Landesring der Unabhängigen» engagierte und 1939 Nationalrat
wurde, tat zur rechten Zeit das Richtige: Er setzte sich für Autoren wie
Döblin und Hans Henny Jahnn ein, half publizistisch und finanziell, wo er
konnte, und liess sich in seiner Hilfsbereitschaft selbst dann nicht
beirren, wenn sie ihm nicht die erhoffte Gegenliebe eintrug.
Diese Haltung blieb die Ausnahme. Viel Unrühmliches ereignete sich.
Hilferufe bedrängter Fachkollegen aus Deutschland blieben unbeantwortet.
Ermatinger verschob ein Habilitationsgesuch des hochbegabten Germanisten
Arnold Hirsch ad calendas graecas; dem angesehenen Gelehrten Werner Richter,
der sich kostenlos als Ordinarius zur Verfügung stellte, beschied der
Fachkollege Andreas Heusler, es sei nicht die Aufgabe der Basler
Universität, «jüdische und halbjüdische Flüchtlinge zu bergen». Allgemein
herrschte an den Schweizer Universitäten die Auffassung, das Boot sei voll,
und kaum ein Dozent mochte sich in Forschung und Lehre mit der deutschen
Exilliteratur befassen oder sich gar für sie einsetzen.
An der Universität Bern gab es allerdings zwei jüdische Dozenten: Fritz
Strich und Jonas Fränkel. Strich, bekannt als Stiltypologe, lieferte in
seinem Buch «Dichtung und Zivilisation» (1928) ungewollt Stichworte zu
deutschen Erwähltheitstopoi, die den Nazis zupass kamen; 1933-1945 zog er
sich in eine Art innere Emigration zurück und publizierte nichts mehr.
Jonas Fränkels Streitbarkeit
Ganz anders Jonas Fränkel (1879-1965), ein heller, polemischer Kopf, der
sich mit jedermann anlegte. Es ist ein besonderes Verdienst von Schütts
Studie, dass sie diesem streitbaren Gelehrten ein - keineswegs unkritisches
- Denkmal setzt. Fränkel stammte aus Krakau und kam um die Jahrhundertwende
in die Schweiz. Bald machte er sich als Herausgeber klassischer und
romantischer Texte einen Namen. Er gewann die Freundschaft Spittelers und
etablierte sich als Privatdozent, wurde jedoch - wahlweise wegen seiner
jüdischen Herkunft, seiner kargen Publikationsliste, seines Ohrleidens oder
seiner «unverträglichen Art» - nie auf einen Lehrstuhl berufen. In der
Folge versuchte er, die philologische Editionsarbeit, die sein Metier
blieb, aufzuwerten und von ihrem Ruf als mechanische Hilfswissenschaft zu
befreien. Die Prämissen von Fränkels Editionspraxis, in der sich Akribie und
«Divination» verbanden, gelten heute als problematisch. Immerhin hat kein
Geringerer als Walter Benjamin notiert, Fränkels Apparat zur kritischen
Keller-Ausgabe zähle «zu den wenigen, deren Studium an sich ein Vergnügen
ist».
Fränkel beschränkte sich indes nicht darauf, eigene Arbeiten vorzulegen,
sondern kritisierte auch jene seiner Fachkollegen - mit offenem Visier und
oft mit schneidendem Spott. Diese - allen voran Faesi und Ermatinger -
reagierten mit Pressionen. Es gelang ihnen, Fränkels berufliches Fortkommen
zu behindern. In einem vergifteten Klima massiver antisemitischer
Anfeindungen und materieller Unsicherheit kam Fränkels Keller-Ausgabe nur
noch schleppend voran.
Er liess sich zu Verzweiflungstaten hinreissen, wurde vollends zum
Querulanten abgestempelt, die (subventionierte) Ausgabe wurde ihm mit
staatlicher Vollzugshilfe entwunden und die Redaktion der verbleibenden
Bände Carl Helbling übertragen. Schütt hat die Machenschaften von Fränkels
Gegnern akribisch nachgezeichnet; Fränkel selbst hat in mehreren brillanten
Schriften («Staats-Philologie») seine Position überzeugend vertreten,
wenngleich er in der Sache selbst - nicht anders als im Spitteler-Streit, in
welchem es um sein Recht als vom Dichter selbst eingesetzter
Nachlassverwalter ging - auf verlorenem Posten kämpfte.
Schütts Forschungen sind vor allem durch die Fülle der Detailergebnisse
aufschlussreich; diese lassen sich nicht ohne weiteres verallgemeinern. Eine
Bilanz lässt sich jedoch zweifellos ziehen: Es gelang der Schweizer
Literaturwissenschaft 1933 bis 1945 nicht, die Exilkultur zu integrieren;
die Belege für Angst, Anpassertum und ideologische Verblendung sind häufiger
als jene für Nüchternheit, Hilfsbereitschaft und Mut.
Manfred Papst
Julian Schütt: Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in
der Zeit des Nationalsozialismus. Chronos-Verlag 1996. 342 S., Fr. 44.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON 01.02.1997 Nr. 26 46
«Julian Schütts Buch über die Schweizer Germanistik zur Zeit des Nationalsozialismus stellt einen ungemein erhellenden Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte unseres Landes dar.»
Aargauer Zeitung
«Schütts Forschungen sind vor allem durch die Fülle der Detailergebnisse aufschlussreich; diese lassen sich nicht ohne weiteres verallgemeinern. Eine Bilanz lässt sich jedoch zweifellos ziehen: Es gelang der Schweizer Literaturwissenschaft 1933 bis 1945 nicht, die Exilkultur zu integrieren; die Belege für Angst, Anpassertum und ideologische Verblendung sind häufiger als jene für Nüchternheit, Hilfsbereitschaft und Mut.»
Neue Zürcher Zeitung
«Gegenwärtig erregt in der Schweiz die Dissertation von Julian Schütt Aufsehen. Sie prüft, wie Schweizer Literaturwissenschaftler sich zum Nationalsozialismus im benachbarten Deutschland verhalten haben. Was man erfährt, bedrückt und fügt sich in das neue Bild, das heute von der damaligen ökonomischen und politischen Verflechtung der Schweiz entsteht.»
Frankfurter Allgemeine Zeitung