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Fortschritt und Freiheit

Nationale Tugenden in historischen Jugendbüchern der Schweiz seit 1880

Broschur
1994. 241 Seiten
ISBN 978-3-905311-39-6
CHF 48.00 / EUR 26.50 
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Welche Bilder der Schweiz finden Kinder und Jugendliche in ihrer Literatur? Was für Leitbilder werden angeboten in Texten, die speziell für Kinder und Jugendliche veröffentlicht werden? Wie unterscheiden sich solche Texte je nach Sprachregion? Mit solchen Fragen befassen sich die vorliegenden Publikationen.
Die Kinder- und Jugendliteratur ist in ihren bis heute gültigen Formen im ausgehenden 18. Jahrhundert entstanden als Teil des neuen Erziehungssystems, dessen Ziel der «zivilisierte», an die bürgerliche Produktions- und Lebensweise angepasste Erwachsene war. Der Kinderliteratur fällt in diesem System die Rolle zu, Sachwissen und ethische Vorstellungen anschaulich und unterhaltsam zu vermitteln. Von daher bietet die Kinderliteratur aufschlussreiches Material zur Mentalitätsgeschichte.
Die Schweizer Kinderliteratur hat von Anfang an besonderes Gewicht auf staatsbürgerliche Tugenden gelegt. Die Autorinnen untersuchen diese Tugenden in zwei Bereichen, in denen in besonderem Mass politische Intentionen und gesellschaftliche Prozesse wirksam werden: Lesebücher und Erzählungen aus der Schweizer Geschichte.
Die drei Arbeiten befassen sich mit Lesebüchern der deutschen und französischen Schweiz seit Ende des 19. Jahrhunderts, den Tessiner Lesebüchern seit 1830 und mit historischen Erzählungen aller Sprachregionen. Sie stellen ihre Entwicklung und die Produktionsbedingungen dar sowie die in ihnen vermittelten Wertvorstellungen. Interessiert hat vor allem der Zusammenhang mit jenen politischen Tendenzen in der Schweiz, die jeweils verstärkte Bemühungen um ein nationales Bewusstsein hervorriefen. Ausgangspunkt für eine eingehendere Interpretation der historischen Erzählung sowie der Lesebücher sind die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts: Aus pädagogischen und auch politischen Gründen setzte damals eine neue Entwicklung in der Konzeption von Lesebüchern sowie in der Beurteilung von Jugendbüchern ein.
Die Einzelarbeiten gehen Fragen der regionalen Eigenheiten und der kulturellen Vielfalt nach. Im Vergleich untereinander geben sie weiteren Einblick in unterschiedliche Konstruktionen einer «schweizerischen Identität» in den verschiedenen Sprachregionen.

Besprechungen

Eidgenössische Selbstbildnisse

Historische Jugendromane und Lesebücher im 20. Jahrhundert

Im Rahmen des 1985 vom Bundesrat in Auftrag gegebenen Forschungsprogramms
21 über «Kulturelle Vielfalt und nationale Identität» ist zwischen 1986 und
1991 am Schweizerischen Jugendbuch-Institut eine Studie entstanden, die sich
gezielt mit dem «Schweizerischen Selbstverständnis in der Literatur für
Kinder und Jugendliche» beschäftigt hat. Im Zentrum standen historische
Jugendbücher sowie offizielle Lesebücher in Schweizer Schulen. In drei
Teilstudien haben sich drei Autorinnen mit einer Frage auseinandergesetzt,
die in Zeiten einer intensiven und kontroversen innerschweizerischen
Auseinandersetzung mit der sogenannten «Europafrage» besonders
aufschlussreich erscheint: Mit Hilfe welcher Bilder und Themen wurden in
den vergangenen hundert Jahren Schweizer Kinder und Jugendliche im Rahmen
von explizit für sie verfassten Texten mit ihrem Staat, ihrem Kanton bekannt
gemacht, und mit welchen Mitteln wurden sie zu nationaler Identität erzogen?
Für zwei der Arbeiten sind Texte aus beinahe dem gesamten Bundesgebiet
untersucht worden - sie sollen hier kurz vorgestellt werden. (Die dritte
Studie beschäftigt sich ausschliesslich mit Tessiner Lesebüchern seit 1830.)

«Pflege eines nationalen Sinnes»

In «Fortschritt und Freiheit. Nationale Tugenden in historischen
Jugendbüchern der Schweiz seit 1880» von Verena Rutschmann steht die
ausserschulische Produktion von Lesetexten für Jugendliche im Vordergrund -
das heisst intendiert literarische Texte, die beschränkt zugänglich waren.
Wie in der Studie einleitend ausgeführt wird, steht die Entwicklung einer
eigenen Kinder- und Jugendliteratur in der Schweiz zu Beginn des
19. Jahrhunderts in direktem Zusammenhang mit der Staatsbildung. Die
Vermittlung eines gesamtschweizerischen Nationalbewusstseins gehörte
deshalb von Anfang an zu ihren Aufgaben - musste ein solches Bewusstsein
doch vor allem politisch begründet werden (mangels Identität durch
gemeinsame Sprache bzw. einheitlichen Kulturraum). Bilder aus der
helvetischen Vergangenheit waren dabei besonders gefragt, aber auch die
Topographie des Landes bot Ansatzpunkte für identitätsstiftende Topoi. Im
Zuge der Bemühungen zur «Pflege eines nationalen Sinnes» gegen Ende des
19. Jahrhunderts beklagte man den Mangel an geeigneten Schweizer
Jugendbüchern. Wie Verena Rutschmann deutlich macht, waren es bis nach dem
Ersten Weltkrieg fast ausschliesslich deutsche Autoren, welche historische
Romane für Jugendliche verfassten - die auch in der Deutschschweiz gelesen
wurden. Erst Anfang der zwanziger Jahre wurde die Schweizer Geschichte der
(eigentlichen) Fiktion erschlossen, als die Kinder- und Jugendliteratur
generell einen Aufschwung erlebte - die innere Krise verstärkte die
Abwehrreflexe gegen Einflüsse von aussen.
Da das gesamte Netz der Kinder- und Jugendliteratur (Produktion, Vertrieb,
Vermittlung) in der Deutschschweiz sich im direkten Einflussbereich der
Schule befand, war das Bild der Schweiz gerade in historischen Romanen von
recht einheitlichen Gesellschaftsauffassungen und den damit verbundenen
Heimatbegriffen und Tugendkatalogen geprägt. Etwas verschieden zeigte sich
dagegen die Situation in der Romandie. Das wird bereits aus der Tatsache
ersichtlich, dass im Gegensatz zur Deutschschweiz vor allem Frauen als
Verfasserinnen von historischen Romanen in Erscheinung traten, die im
übrigen ausserhalb der Lehrerschaft standen. Zudem wurde literarischen
Aspekten deutlich mehr Stellenwert eingeräumt als pädagogischen (in der
Deutschschweiz wiederum genau umgekehrt).
Mit lustvoller Sachlichkeit arbeitet Verena Rutschmann die helvetischen
Selbstdarstellungsmodelle von Schweizer Jugendbuchautorinnen und -autoren
heraus, wobei der Hauptteil jenen Büchern gewidmet ist, die in der für die
Mehrheit der heutigen «Erwachsenengeneration» prägenden Zeit zwischen den
zwanziger und den sechziger Jahren entstanden sind. Im Zentrum der
Untersuchungen stehen der Heimatbegriff, der Begriff von Gesellschaft bzw.
Volk sowie das vermittelte Familienbild. Die Ergebnisse sind nicht selten
überraschend, kann die Autorin doch mit Hilfe der über 300 ausgewerteten
Werke darlegen, in welcher Weise die Schweiz in dieser Zeit an ihrem eigenen
Klischee gearbeitet hat (z. B. die Berge als einendes Element).

Kantönligeist für die Schule

«Eine Schweiz für die Schule. Nationale Identität und kulturelle Vielfalt
in den Schweizer Lesebüchern seit 1900» von Barbara Helbling beleuchtet
eine andere Seite der Medaille. In Anlehnung an Max Frischs Text «Wilhelm
Tell für die Schule» (der laut Verena Rutschmann einen Wendepunkt im
historischen Jugendbuch-Schaffen der Schweiz markiert) geht diese Studie
jenem Textkorpus nach, das als quasi «unvermeidliches» Lesematerial nahezu
flächendeckende Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche haben musste und
immer immer noch hat: den obligatorischen Schullesebüchern. Dabei
interessierten Barbara Helbling in erster Linie die sogenannten
Mittelstufen-Lesebücher (4. bis 6. Schuljahr). Da das Schulwesen in der
Schweiz bekanntlich in kantonaler Kompetenz liegt, war es bis in die
allerjüngste Vergangenheit allen Kantonen ein Anliegen, möglichst
eigenständige Lesebücher herauszubringen. (Erst seit 1986/88 existiert ein
einheitliches Lesebuch für die Romandie, seit 1991 liegen zwei
Lesebuchreihen für die gesamte Deutschschweiz vor.)
Als besonders interessant erweist sich die erste «Generation» der
untersuchten Lesebücher (1900 bis 1920): Zu einer Zeit, in welcher das
Vertrauen einzelner Kantone in den noch jungen Bundesstaat keineswegs
gefestigt war, in welcher zudem Artikel 27 der revidierten Bundesverfassung
von 1874 die Kantone dazu anhielt, «Vaterlandskunde» in Lehrpläne und
Schulbücher aufzunehmen, bedeutete es für jeden Kanton eine besondere
Herausforderung, «sein» Lesebuch zu gestalten - ging es doch auch um die
Förderung einer kantonalen Identität. Die Studie trägt diesem Umstand
Rechnung, indem die Lesebücher isoliert nach ihrem jeweiligen kantonalen
Heimatgedanken untersucht werden. Das Ergebnis ist ein buntes und aus der
Distanz gesehen geradezu satirisches Bild der einzelnen Regionen. In den
Bemühungen der frühen Lesebuchschreiber(innen), ihren Kanton möglichst ins
beste Licht zu rücken und seine jungen Bewohner zu brauchbaren Bürgern zu
erziehen, war ihnen kein Bild zu pathetisch, keine Belehrung zu aufdringlich
und keine historische Halbwahrheit zu peinlich. Bezüglich der gewünschten
Tugenden erfreuten sich Fleiss, Anspruchslosigkeit und Sauberkeit
besonderer Beliebtheit; das Bergbauernleben wurde als eigentliche
schweizerische Bestimmung gefeiert.
Die Romandie bildet wiederum eine Ausnahme. Einerseits galt auch für ihre
Lesebücher ein literarischer Anspruch, der höher war als in der
Deutschschweiz, andererseits wurde bereits stärker auf ein nationales
Zusammengehörigkeitsgefühl hingearbeitet.

Vom «Heimatschutz» zum Umweltschutz

Wie Barbara Helblings Arbeit zeigt, fielen die beiden folgenden
Lesebuchgenerationen (1920 bis 1960, 1960-90) gesamtschweizerisch deutlich
einheitlicher aus. Während die Bücher der Zwischen- bis Nachkriegszeit im
deutschen Sprachgebiet durch eine eklatante Zunahme von Mundarttexten,
durch hartnäckig konservative Heimatbilder sowie das Ausklammern der
Ereignisse der jüngeren Schweizer Geschichte (auch des 19. Jahrhunderts)
gekennzeichnet sind, ist nach 1960 ein sukzessiver Abbau ideologischer
Inhalte feststellbar. An die Stelle von Patriotismus tritt Umweltschutz, das
Heimatmotiv wird in interkulturellen Themen gespiegelt, und literarische
bzw. linguistische Qualitäten der ausgewählten Texte treten in den
Vordergrund.
Beide Studien sind mit einer ganzen Reihe zum Teil ebenso amüsanter wie
aufschlussreicher Zitate angereichert. Das erhöht nicht nur den Lesegenuss
entscheidend, sondern untermalt auch die von den Autorinnen aus den Jugend-
und Lesebüchern dieses Jahrhunderts herausgearbeiteten
Wunschselbstbildnisse der Schweiz in den buntesten Farben.
Gerda Wurzenberger

Verena Rutschmann: Fortschritt und Freiheit. Nationale Tugenden in
historischen Jugendbüchern der Schweiz seit 1880. Chronos-Verlag, Zürich
1994. 241 S., Fr. 44.-. - Barbara Helbling: Eine Schweiz für die Schule.
Nationale Identität und kulturelle Vielfalt in den Schweizer Lesebüchern
seit 1900. Chronos-Verlag, Zürich 1994. 432 S., Fr. 58.-.

Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON 20.03.1996 Nr. 67 48