Max Frisch und die Schweiz
rbl. «Ich hasse nicht die Schweiz, sondern die Verlogenheit.» Die Worte hat
Max Frisch 1954 dem Protagonisten seines Romans «Stiller» in den Mund
gelegt. Der Satz wird indessen auch für Frisch selber Gültigkeit gehabt
haben: wie kaum ein anderer hat sich Frisch, von wenigen Unterbrechungen
abgesehen, zeit seines Lebens mit dem Schweizerischen an der Schweiz
kritisch auseinandergesetzt. Aus seinem Unbehagen an der Schweiz entstand
ein langes Unbehagen der Schweizer Literaturkritik an Frisch. Diese
schwierige und mit Zündstoff geladene Dreieckskonstellation wird in einer
lesenswerten und materialreichen Dissertation der Zürcher Germanistin Sonja
Rüegg ausgeleuchtet. Mit grosser Akribie und Umsicht untersucht sie anhand
dreier Schlüsselwerke Frischs aus den fünfziger Jahren («Graf Öderland»,
«Stiller» und «achtung: die Schweiz») die produktions- und
rezeptionsästhetischen Voraussetzungen der vielfach uneingestandenen
Schwierigkeiten, die die zeitgenössische Literaturkritik mit der
gesellschaftspolitischen Seite in Frischs Werken bekundete. Mit
einlässlichen Textanalysen sowohl der Primärtexte wie der zeitgenössischen
Rezensionen führt Rüegg den Nachweis, dass man gegenläufig zu Max Frischs
Intentionen sein Konzept einer gesellschaftlich engagierten Ästhetik
hartnäckig zugunsten einer vom Politischen autonomen Ästhetik
herunterspielte. Freilich waren das schon damals Rückzugsgefechte einer
Literaturkritik, die nach dem Zürcher Literaturstreit von 1966 vollends ins
Abseits geriet. Bei Max Frisch hatte das mangelnde Verständnis für seine
ästhetischen Anliegen dennoch zu Verbitterung und zu seiner zeitweisen
Abwendung von der Schweiz geführt.
Sonja Rüegg: «Ich hasse nicht die Schweiz, sondern die Verlogenheit». Das
Schweiz-Bild in Max Frischs Werken «Graf Öderland», «Stiller» und «achtung:
die Schweiz» und ihre zeitgenössische Kritik. Chronos-Verlag, Zürich 1998.
475 S., Fr. 68.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON 13.03.1999 Nr. 60 68