PIETRO MORANDI
KRISE UND VERSTÄNDIGUNG
DIE RICHTLINIENBEWEGUNG UND DIE ENTSTEHUNG DER KONKORDANZDEMOKRATIE 1933-1939
CHRONOS, ZÜRICH 1995, 475 SEITEN, FR. 58.-
Die Wege, die aus der Krise der 30er Jahre hinausführten, sind vielfältig: Faschismus und Nationalsozialismus, Volksfront und New Deal und natürlich die schweizerische Form der Verständigung von Bürgertum und Sozialdemokratie, die auf die Konkordanz hinausläuft. Etwas weniger im Blickfeld steht die schwedische Lösung, wo 1933 eine Allianz mit der Bauernpartei der Sozialdemokratie die Möglichkeit gab, die Grundsteine für ein später vielbeachtetes gesellschaftliches Modell zu legen. Kaum beachtet wurde bisher, dass in der Schweiz der Kriseninitiative von 1935 und der daraus hervorgegangenen Richtlinienbewegung ähnliche Zielsetzungen zugrunde lagen - es ging ihren Protagonisten um eine neue Mehrheit für eine neue Politik. Am prononciertesten drückte es der SPS-Präsident Hans Oprecht 1937 aus: «Die Richtlinienbewegung erinnert an die Zeit der Regeneration 1830-1848, sie soll eine ähnliche historische Mission erfüllen.» (322) In der bisherigen Historiographie wird dagegen die Richtlinienbewegung - wenn überhaupt - v. a. als Etappe der Linken auf dem Weg in die Konkordanz gedeutet; die entscheidende Beteiligung der Jungbauern erscheint als Episode, wenn sie nicht ganz unterschlagen wird. Es ist also ein wichtiges Thema, dessen sich Pietro Morandi in seiner Dissertation angenommen hat. Erstmals wird die Zusammenarbeit von Bauern-, Arbeiter- und Angestelltenorganisationen in den 30er Jahren auf nationaler Ebene ausführlich analysiert. Damit erhält nicht nur diese Verständigung, die die Hegemonie des Bürgerblocks erschütterte, endlich die verdiente Aufmerksamkeit, sondern auch die Herausbildung und Durchsetzung der dann von allen wichtigen gesellschaftlichen Gruppierungen bis in die 1970er Jahre hinein getragenen wirtschaftspolitischen Grundhaltung. Ein wichtiges Thema - aber ein ärgerliches Buch, weil es so unsorgfältig aufgebaut und geschrieben ist, dass das Lesen zur Qual wird. Das ist schade, weil es zugleich spannendes Material und interessante Ergebnisse enthält; wir versuchen sie im folgenden zusammenzufassen.
Morandi nimmt den von Oskar Scheiben (Krise und Integration, Zürich 1987) ausführlich thematisierten Übergang der SPS von einer System- zu einer Konjunkturpolitik in der ersten Hälfte der 30er Jahre auf und geht gleichzeitig den Wurzeln des neuen Oppositionsverständnisses der Kreise um die 1933 gegründete Wochenzeitung «Die Nation» nach; nur angedeutet wird der Beitrag, den die aufgrund der Dauerkrise des Agrarsektors und der alles dominierenden Links-Rechts-Konstellation immer unzufriedener werdenden Teile der Bauern und der Angestellten zur Entstehung dieser neuen Opposition geleistet haben. Viel Platz und Aufmerksamkeit räumt der Autor hingegen dem «Ringen um ein neues Oppositionsverständnis und Programm» der Arbeiterbewegung ein. Thematisiert werden sodann die Krise der bundesrätlichen Wirtschaftspolitik und die Krisenbekämpfungspolitik der Richtlinienbewegung sowie die freisinnigen und konservativen Reaktionen darauf. Abgerundet wird die Untersuchung durch die Schilderung des Kampfes um die «neue Mehrheit», an dessen Ausgang die Niederlage der Richtlinienbewegung und der Triumph der unmittelbaren Vorstufe der bis heute wirkenden Konkordanzpolitik steht.
Ein erster Höhepunkt des gewerkschaftlich-bäuerlichen Kampfes zur Durchsetzung ihrer im wesentlichen von Max Weber - dem wissenschaftlichen Mitarbeiter des Gewerkschaftsbundes und späteren SP-Bundesrat - konkretisierten wirtschaftspolitischen Alternativen zur bürgerlichen Lohn- und Preisabbaupolitik war die Lancierung der Kriseninitiative 1934. In der 1937 gegründeten Richtlinienbewegung, bei der sich nun auch parteipolitische Organisationen beteiligten, verfestigte sich die Allianz organisatorisch. Mit diesem neuen, links der Mitte anzusiedelnden Bündnis wurde die politische Macht des Bürgerblocks auf eidgenössischer Ebene jetzt viel unmittelbarer in Frage gestellt als vorher durch die klassenkämpferisch ausgerichtete Arbeiterbewegung unter Führung der Sozialdemokratischen Partei. Die herausragenden Figuren der Bewegung waren Max Weber und SGB-Präsident Robert Bratschi, der Jungbauern-Führer Hans Müller, der Schaffhauser Bauernpolitiker Paul Schmid-Ammann (später SP) und der Bündner Demokrat Andreas Gadient. Sie entwickelten ein Programm, das einerseits defensiv auf die politische und wirtschaftliche Krise reagierte: Verteidigung der Demokratie und keynesianische Wirtschaftspolitik. Diese Wirtschaftspolitik sollte aber eine grundsätzlich neue sein und sich auf eine neue Mitte-Links-Mehrheit von Arbeiterschaft, Angestellten und Bauern stützen, zu der man auch linksbürgerliche Kreise herüberzuziehen hoffte. Darin lag das offensive Moment der Bewegung, deren Führer sich gegen innenpolitisches «appeasement» und «freiwillige Gleichschaltung» richteten.
Das war auf die Gegner des Konzepts innerhalb der Arbeiterbewegung gemünzt. Da war einmal die Linie von Robert Grimm, der dem Kampf um eine neue Mehrheit links der Mitte die von den bürgerlichen Parteien offerierte Zusammenarbeit vorzog; 1938 liess er für zwei SP-Regierungsratssitze im Kanton Bern die Richtlinien-Allianz mit den Jungbauern platzen und leitete damit einen Probelauf für die Konkordanz ein. Da war anderseits der SMUV unter der Führung von Konrad Ilg, der im Gegensatz zur Richtlinienbewegung sich mit den Interessen der Exportindustrie identifizierte und das Friedensabkommen mit den Arbeitgebern abschloss. Beide zogen eine Zusammenarbeit oben dem Kampf um eine neue Mehrheit von unten vor. Sie konnten sich darauf berufen, dass auf bürgerlich-bäuerlicher Seite die der Richtlinienbewegung freundlichen Kräfte unterlegen waren: Walter Stucki unterlag im Freisinn ebenso wie Ernst Laur im Bauernverband. Anderseits zwang die neue Herausforderung die liberalen Kräfte innerhalb des Bürgerblocks doch, sich 1938 von der konservativ-reaktionären Linie der Konservativen Volkspartei und der welschen Bürgerlichen zu lösen und mit Exponenten der SPS ernsthaft eine interparteiliche Zusammenarbeit zu suchen. Bei den Kräften um Robert Grimm - der langfristig am revolutionären Ziel des Klassenkampfes festhalten wollte, aus «taktischen Gründen» jedoch kurzfristig zur Übernahme von «Verantwortung» in einer bürgerlich dominierten Regierung bereit war - fanden sie verhandlungswillige Partner. Das Finanzprogramm vom November 1938 bildete den Wendepunkt: Die SPS unterstützte es in der Volksabstimmung und sicherte ihm eine Mehrheit, die Partner der Richtlinienbewegung blieben mit ihrer Ablehnung allein - die Bewegung war zerbrochen. Der «Lohn» für die SPS blieb allerdings vorerst aus, in der Dezember-Wahl gab es keinen SP-Bundesrat. Erst 1943 waren die Bürgerlichen bereit, die Verständigung zum Konkordanzsystem auszubauen. Wichtige Exponenten der ursprünglichen gewerkschaftlich-bäuerlichen Koalition wie die Jungbauern, die in ihrer radikal antibürgerlichen Haltung verharrten und 1940 fatalerweise immer noch gleich systemkritisch argumentierten wie 1933/34, wurden durch diese Entwicklung innenpolitisch vollständig isoliert.
Diesen Prozess vorwiegend aus der Sicht der Arbeiterbewegung ausführlich dokumentiert und analysiert zu haben, ist Pietro Morandis Verdienst. Überzeugend arbeitet er den Unterschied zwischen den zwei Konzeptionen von Verständigung heraus, die es innerhalb der Linken gab: den einen ging es um Machtablösung durch die Opposition, den andern um Machtbeteiligung der Opposition. Was man allerdings vermisst, ist eine Analyse, warum das Projekt einer neuen, um Gewerkschaften und Bauernorganisationen zentrierten Mehrheit gescheitert ist. Ebenso fehlt der Versuch, die Bedeutung dieser Bestrebungen einzuschätzen. Denn der äusserliche Misserfolg ist ja keineswegs alles. Für die SP hält Morandi treffend fest: «Die SPS hatte die ÐRichtlinienbewegungð in gewissem Sinne wie eine Leiter benutzt, die nun, nachdem die Mauer erklommen schien, abgeworfen werden konnte.» (387) Auf der andern Seite bildete die Richtlinienbewegung ein wichtiges Gegengewicht gegen die konservativ-reaktionären Bestrebungen in Richtung autoritäre Ordnung und zwang den Freisinn, sich davon zu distanzieren und die Verständigung nach links zu suchen. Und wenn sich schliesslich auch ein anderes politisches Konzept durchsetzte - die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Richtlinienbewegung spielen auch in der Konkordanzdemokratie der Nachkriegszeit eine zentrale Rolle: Von den Wirtschaftsartikeln über die AHV bis zum Landwirtschaftsgesetz lassen sich ihre Spuren verfolgen. Die Richtlinienbewegung war zwar nicht ihrer Absicht nach, wohl aber in ihrer Wirkung ein Schritt auf dem Weg zur Konkordanz. Vorher aber öffnete sie in den 30er Jahren das bisher letzte Mal eine realistische Chance für eine andere Entwicklung der Schweiz.
Es wäre daher bedauerlich, wenn das Buch wegen seiner Mängel nicht zur Kenntnis genommen würde. Diese sind freilich zahlreich. Einerseits weist es unendlich viele Wiederholungen auf, andererseits ist die Herleitung zentraler Aussagen oft nur schwer nachvollziehbar (der Autor verweist zwar immer wieder auf vorangegangene oder folgende Erläuterungen, jedoch ohne kenntlich zu machen, wo genau etwas «noch gezeigt werden wird»). Zentrale, den meisten LeserInnen nicht geläufige Begriffe wie «Front der Arbeit», «Richtlinienbewegung» etc. werden nicht oder erst viel später im Text erklärt; zudem werden Abkürzungen verwendet, obwohl kein Verzeichnis vorhanden ist. Es fehlt auch nur eine Skizze der wirtschaftlich-sozialen Problematik, der politischen Krise, der beteiligten sozialen Gruppen. Die politischen Auseinandersetzungen spielen sich im luftleeren Raum ab. Die Chronologie ist kaum nachvollziehbar; der Text dreht sich zeitlich und inhaltlich im Kreis, ohne dass ein analytisches Konzept erkennbar würde. Selbst die Überschriften der Kapitel haben oftmals kaum etwas mit dem nachfolgenden Text zu tun. Seitenlange Quellenreferate bzw. -zitate (ein mehr als halbseitiges Zitat kommt sogar zweimal vor!) sind einerseits interessant, anderseits nicht in eine Synthese eingebettet. Besonders ärgerlich sind die unbelegten Aussagen wie die wiederholt geäusserte Behauptung, die waadtländer Bauernpartei sei Mitglied der Richtlinienbewegung gewesen, obwohl sie dies nach bisherigem Kenntnisstand eben gerade nicht war. Das Beispiel ist zwar beliebig - aber wichtig, weil es allenfalls Hinweise zur Beantwortung der Frage geben könnte, weshalb die Richtlinienbewegung in der Romandie auch bei Gruppierungen, die eine ähnliche Politik betrieben, kaum Erfolg hatte.
Die von Morandi konsultierte Quellenbasis für die bäuerliche Komponente der Richtlinienbewegung ist äusserst schmal; unbegreiflich etwa, weshalb der Autor nicht einmal den leicht zugänglichen Nachlass von Paul Schmid-Ammann, einem der wichtigsten Exponenten der Richtlinienbewegung, konsultiert hat. Morandis zuweilen erstaunlich treffsichere Urteile lassen erahnen, was für ein gutes Buch hätte entstehen können. So bleibt es ein Steinbruch, dessen Benutzung harte Arbeit erfordert; und doch: der Schweiss lohnt sich.
Werner Baumann, Peter Moser
(Basel, Bern)
Traverse 1997/1 (172-175)