JAKOB MESSERLI
GLEICHMÄSSIG, PÜNKTLICH, SCHNELL
ZEITEINTEILUNG UND ZEITGEBRAUCH IN DER SCHWEIZ
IM 19. JAHRHUNDERT
CHRONOS, ZÜRICH 1995, 296 S., FR. 48.-
Wer 1890 einmal um den Bodensee reiste, musste die Taschenuhr fünf Mal der jeweiligen Zeitzone anpassen. Wer sich um 1800 über die Alpen nach Süden begab, hatte eine komplizierte Umrechnungstabelle mitzuführen, um dortige Uhren ablesen zu können. Denn im Tessin und in Teilen Graubündens wurden die Stundendes Tages noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vom Sonnenauf- beziehungsweise -untergang her gezählt, der sich von Tag zu Tag verschiebt. Ein Zeitvergleich mit Uhren, die nach dem datumsunabhängigen Mitternachtsfixpunkt gerichtet sind, gestaltete sich entsprechend schwierig. Innerhalb der kleinen Schweiz scheint ein solcher Zeitenplural heute fast undenkbar. Einheitliche Zeit ist als generalisiertes Kommunikationsmedium zu einer tiefsitzenden Selbstverständlichkeit geworden. Um so schwieriger wird es, ihr eine historische Dimension abzugewinnen. Das aus einer Berner Dissertation hervorgegangene Buch von Jakob Messerli versucht genau dies.
Ausgehend von Norbert Elias fasst Messerli die Zeit als Beziehung zwischen zwei oder mehreren Geschehensabläufen. Im Sinne eines gesellschaftlichen Regulativs erhält sie damit eine Geschichte, die auch Alltagsgeschichte ist. Im ersten und interessantesten Teil über die Zeiteinteilung liefert er eine ganze Reihe von Annäherungen an vergangene Alltagswirklichkeiten, die geradezu überraschende Entfernungen zur heutigen Normalität aufscheinen lassen. An Beispielen wie der «Italienischen Zeit» im Tessin, der «Mittagslinie», welche zur Bestimmung des höchsten Sonnenstandes - und damit der sogenannten «natürlichen» oder «wahren» Zeit - diente, und am kurios anmutenden Beispiel der «Basler Uhr», die den Mittag noch im 18. Jahrhundert mit einer Eins angab, verdeutlicht Messerli, dass Zeit als Referenzsystem eine eng lokale Bedeutung hatte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand ein Vereinheitlichungsprozess dieser lokalen Vielheit statt, der zu immer regelmässigeren und genaueren Zeitmassstäben führte, die in immer grösseren Räumen Gültigkeit erlangten. Mit der allmählichen Einführung einer Landeszeit (ab den 1850er Jahren), und später der mitteleuropäischen Zeit (1894) wurde der Schrumpfung des Raumes durch Telegraph, Eisenbahn und Dampfschiff Rechnung getragen. Ein ähnlicher Prozess spiegelt sich in der Verdrängung des Julianischen Kalenders durch den Gregorianischen.
Im eher knappen zweiten Teil zeigt Messerli, wie die Zeitbestimmung nach der vermeintlichen Bewegung der Sonne um die Erde im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch bedeutend präzisere Methoden verdrängt wurde. Schon 1865 stand der unregelmässigen Sonnenuhr eine mechanische Genauigkeit im Bereich von Hundertstelsekunden gegenüber. Den in diesem Prozess notwendig werdenden Zugang zu entsprechenden mechanischen Uhren versteht er als Indikator dafür, wie sich die zunehmend rigide Zeitregulierung im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem sozialen Zwang entwickelt hat. Messerlis Auswertung von 2100 Konkursakten zeigt, dass Zeitbestimmungsmittel in der Schweiz - im Gegensatz zu einer These E. P. Thompsons - schon vor Industrialisierung und Fabrikarbeit beachtliche Verbreitung fanden.
Nach einem kurzen Exkurs über pietistische Zeitnutzungskonzepte und Benjamin Franklins Formel «time is money» versucht Messerli im letzten Teil seines Buches zu rekonstruieren, welches Verhältnis die Schweizer Bevölkerung gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Zeit hatte. 1174 belehrende Artikel aus rund 70 Blättern volkstümlicher Anweisungsliteratur dienen ihm als Quellen für den Zeitraum von 1851-1900. Während dieser 50 Jahre beschäftigte sich konstant circa ein Drittel der Texte mit dem bürgerlichen Zeitverständnis. Dessen Leitspruch «Zeit ist Geld» wurde dabei auch auf die nicht entlöhnte häusliche Reproduktionsarbeit von Frauen angewendet. Ein zweites Thema ist die Bedeutung des Schlafes beziehungsweise der Ruhe. Hinter den betreffenden Artikeln stellt Messerli ein Körperbild fest, das den menschlichen Körper als (Dampf-)Maschine konzeptualisiert, die ohne periodische Reparatur- und Erneuerungsphasen nicht ständig produktiv sein kann. Die entsprechenden Anweisungen zum «richtigen» Umgang mit dem Körper trugen gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend wissenschaftliche Züge. Während die Beschleunigung des Verkehrs und die wachsende Komplexität städtischer Lebenszusammenhänge noch bis circa 1880 eher positiv eingeschätzt wurden, stellt Messerli in den untersuchten Unterhaltungs- und Belehrungsblättern nach diesem Stichdatum überwiegend negative Bewertungen fest: Nervosität beziehungsweise «Neurasthenie» und die «Überbürdung» der Schulkinder mit Stoff wurden zu immer prominenteren Themen. Als Kur galten Erholung durch Schlaf, Sonntagsruhe und Ferien auf dem Land. Anschliessend an diese gängigen Rezepte gegen die Nervenschwäche deutet Messerli das historische Phänomen der Neurasthenie als körperlich gewendete Reaktion auf den Modernisierungsprozess.
Spätestens bei dieser medizingeschichtlichen These werden in Messerlis Arbeit Lücken sichtbar: Aktuelle wissenschaftsgeschichtliche Ansätze, welche naturwissenschaftliche Tatsachen als soziale Konstruktionen untersuchen, glänzen durch überraschende Abwesenheit. Interessante Fragestellungen werden so übergangen. Die von Messerli gewinnbringend und alltagsnah aufgearbeitete Quellenbasis (ebenso wie die gleichsam neu eröffnete Quellengattung der Unterhaltungs- und Belehrungsblätter, zu deren Erschliessung der Autor einen wichtigen Beitrag geleistet hat) könnte etwa daraufhin befragt werden, inwiefern die als soziale Konstruktion verstandene Neurasthenie durch die Pathologisierung von Modernisierungskritik das Fortschrittsvertrauen der entstehenden Schweizer Industriegesellschaft normalisierte. Ganz ähnlich vergibt Messerli auch im ersten Teil zum Beispiel die Frage danach, inwiefern die beschriebene Homogenisierung der Zeiteinteilung innerhalb der Einflusssphäre des jungen Bundesstaates dazu beitrug, den nationalen Zusammenhalt zu stärken. Und er fragt im zweiten Teil nicht danach, welche Neubewertung die durch technische Zeitbestimmungspräzision entwertete Natur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr. Zeit als «soziale Übereinkunft» (111) bleibt in seiner deskriptiven Untersuchung überraschenderweise Nebensache. Dabei könnte doch gerade die soziale Konstruktion dieser Normalität Anlass zu interessanten Überlegungen bieten. Warum dreht Messerli die materialreich widerlegte These E. P. Thompsons nicht zu der Frage um, inwiefern die Verbreitung der mechanischen Uhr im 18. und frühen 19. Jahrhundert erst den Boden bereitete für die Disziplinierung des Zeitgebrauchs im Laufe der Industrialisierung?
So beschränkt sich der Autor darauf - und das ist leider ein eher dürftiges Fazit -, eine solide Quellenbasis auszubreiten, auf welche mutigere und breiter angelegte Arbeiten zur sozialen Konstruktion der Zeit in der Schweiz des 19. Jahrhunderts zurückgreifen können.
Daniel Speich (Zürich)
Traverse 1997/3 (131-133)