Stadttheater contra Schaubuden

Zur Basler Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts

Theatrum Helveticum, Band 3
Gebunden
1998. 272 Seiten, 62 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-905312-54-6
CHF 48.00 / EUR 43.00 
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Die grossen Publikumserfolge der Schausteller während der Basler Herbstmesse veranlassten das Stadttheater im 19. Jahrhundert immer wieder, auf politischem Weg gegen die Jahrmarktsattraktionen vorzugehen. Dass das 1834 eröffnete Stadttheater und die Schaustellungen einander konkurrenzierten und vor allem die Zirkusgastspiele das Theater vor grösste Geldprobleme stellten, darüber waren sich Stadttheater und Regierung, Polizei, Presse und Publikum einig. Wie diese Konkurrenzbeziehung jedoch (kultur-)politisch zu behandeln sei, darüber gingen die Meinungen auseinander.
In der vorliegenden Studie werden verschiedene Publikums- und Interessengruppen untersucht, deren Debatten um das Konkurrenzverhältnis einen fundamentalen Wandel in der kulturellen Wertehierarchie des 19. Jahrhunderts dokumentieren. Zahlreiche Quellen illustrieren, wie sich das Stadttheater im Verlaufe des 19. Jahrhunderts gegen seine Konkurrenten durchsetzte und zu einer kulturellen Leitinstitution mauserte. Das Buch fächert dazu ein breites Panorama bürgerlicher Theaterformen (Schaustellungen, Zirkus, städtische Festkultur, Vereinstheater, Stadttheater) auf und ermöglicht so einen tiefen Einblick in die bürgerliche Kulturpraxis.

Pressestimmen

«Das ist Theaterwissenschaft, die man sich gern gefallen lässt, lehrreich, aber nicht belehrend – und amüsante Ausblicke auf heute eröffnend.»
Basler Zeitung

«Die Untersuchung Koslowskis ist ein wesentlicher Beitrag nicht nur zur Theater-, sondern auch ganz besonders zur Festkultur; im übrigen ist sie auch gut lesbar.»
DerKomet - Fachzeitung für Schausteller und Marktkaufleute

«Koslowskis Beitrag zur Basler Theatergeschichte ist eine Pionierleistung; Statt wie üblich auf das Stadttheater, seine Aufführungen und seinen Spielplan zu fokussieren, betttet er dessen Entwicklung in einen präzisen historischen und weiten kulturgeschichtlichen Zusammenhang ein. Unterstrichen wird dies durch überaus reiches und ungewohntes Illustrationsmaterial.»
Der Bund

«Zum Lesen und Weiterdenken sehr empfohlen!»
Figura – Zeitschrift für Theater und Spiel mit Figuren


Besprechungen

Theaterdebatten, dazumal

A. Sr. Wie erhellend gerade für den am Gegenwartstheater Interessierten hin
und wieder die Lektüre theaterhistorischer Studien sein kann, belegt die
neueste Dissertation aus dem noch jungen Stall des Instituts für
Theaterwissenschaft der Universität Bern. Dabei hätte man durchaus nicht auf
Anhieb vermutet, dass sich im Forschungsgegenstand «Stadttheater contra
Schaubuden - Zur Basler Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts» eine solche
Vielzahl aktueller Diskurse über das Theater in seinem Kampf um die Gunst
von Publikum und Politik reflektieren würde. Der Autor Stefan Koslowski
zeigt detailliert auf, wie sich anhand der Debatten um die Konkurrenz
zwischen dem Stadttheater auf der einen und den Zirkussen und
Schaubudenattraktionen auf der andern Seite ein fundamentaler Wandel in der
kulturellen Wertehierarchie des 19. Jahrhunderts abzeichnet, der bis heute
nachwirkt. Die von Theaterkreisen betriebene normative Aufspaltung des
Kunstbegriffs in «höhere» und «niedere» Kunst wird dabei als vornehmlich
ökonomisches Überlebensargument durchsichtig. Was die auch sprachlich sehr
gepflegte Studie besonders wertvoll macht, ist ihre sorgfältige
Auffächerung rechtlicher, ästhetischer, kulturpolitischer und
soziologischer Fragestellungen, die im Spiegel dieser Theaterdebatten mit
ihren verschiedenen gesellschaftlichen Interessengruppen ein lebendiges
Stück Stadt- und Kulturgeschichte aufscheinen lassen. Und es ist wohl das
schlechteste Zeichen nicht, wenn man nach dieser - streckenweise auch sehr
amüsanten - historischen Lektüre mit grösserer Gelassenheit auf
gegenwärtige Diskussionen um Zuschauerschwund und Spardiktat, um
Abgrenzungs- und Vermischungswut des guten alten Theaters mit den schlimmen
neuen Medien, der etablierten mit der freien Szene, der hehren Mythen mit
Trivial- und Trashkultur blickt.

Stefan Koslowski: Stadttheater contra Schaubuden. Zur Basler
Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts. Chronos-Verlag, Zürich 1998. 271.;
S., Fr. 48.-.

Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung LITERATUR 11.07.1998 Nr. 158 69


Kaiser Sigismund erscheint zu Pferd

Wie das Theater den Zirkus besiegte

Von Stefan Koslowski

Die deutschsprachigen Stadt- und Staatstheater durchleben derzeit eine
heftige Identitäts- und Legitimationskrise. Sie scheinen ihre Funktion als
«herrschende Form» - im Sinn einer Messlatte für andere Theaterformen -
zunehmend einzubüssen. Wie sich in der Schweiz die «Stadttheater» überhaupt
zu kulturellen Leitinstitutionen mausern konnten, illustriert die Basler
Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts.

Im vergangenen Jahrhundert trafen die zumeist deutschen und österreichischen
Theaterleute bei ihren Engagements an den Deutschschweizer Stadttheatern auf
eine urbane und politische Kultur, die sich deutlich vom sonstigen
deutschen Sprachraum unterschied. Zwar gab es in den Schweizer Städten
durchaus eine Führungsschicht von Patriziern, die sich aristokratisch
gebärdete, letztlich aber nur als grossbürgerlich zu bezeichnen ist. Von
diesen «Herren», wie sie in Basel im Gegensatz zu den «Bürgern» genannt
wurden, gingen weit weniger kulturelle Impulse aus als von Landesfürsten
oder Königshöfen des europäischen Auslands. Höfische und grossstädtische
Vorstellungen von einem blühenden kulturellen Leben unterschieden sich krass
von der kulturellen Wirklichkeit der Schweizer Städte.

SONDERFALL SCHWEIZ

Zu den Gründungszeiten der Stadttheater - St. Gallen 1805, Zürich und Basel
1834, Bern 1836, Luzern 1839, Solothurn 1856 - existierte noch kein
ausdifferenziertes System der öffentlichen Freizeitangebote. Die
Initiativen gingen dabei fast ausschliesslich von Privaten oder Vereinen
aus. Wegen der geringen «Staatlichkeit» und hohen «Selbstregierung» der
Schweiz und da der politischen Öffentlichkeit nur eine sehr schwache und
wenig professionalisierte Verwaltung zur Seite stand, kam dem bürgerlichen
Vereinswesen eine besondere Bedeutung zu. Es übernahm Aufgaben, deren sich
im europäischen Ausland eher Verwaltungen und politische Autoritäten
annahmen. So waren in der Schweiz die sogenannten Stadttheater auch nicht
das stolze Ergebnis kommunaler oder kantonaler Kulturpolitik, sondern
zunächst die schnöden Spekulationsobjekte von Aktiengesellschaften, die
durch die Verpachtung des Theatergebäudes auf einen finanziellen Gewinn
hofften. Weil bald deutlich wurde, dass die Theater defizitär arbeiteten,
scheuten sich die Städte, die ideelle und finanzielle Verantwortung für die
Bühnen zu übernehmen. Dem für die Schweiz so fundamentalen
Subsidiaritätsprinzip folgend, gingen die politischen Gremien davon aus,
dass Schöpfer und Träger aller Kultur nur der Mensch, nicht aber der Staat
sein könne, weswegen allenfalls «Hilfe zur Selbsthilfe» gewährt wurde.
Diese Logik prägt bis heute die Kulturpolitik der Schweiz: «Wir sind in
einem subsidiär funktionierenden Land, wo unsere Führungsrolle - auch
mangels Kulturförderungsartikel - eher eine moralische ist», fasste 1996 der
Direktor des Bundesamtes für Kultur, David Streiff, die realpolitischen
Folgen dieser Auffassung zusammen.
Die Bühnen blieben den herrschenden Marktgesetzen unterworfen. Vorrangig
mussten sie sich darum bemühen, ihre überdimensionierten Zuschauerräume zu
füllen. Doch wie kann man ein Theater mit 1600 Plätzen allabendlich
auslasten in einer Stadt wie Basel, wo 1850 gerade einmal knapp 30 000
Einwohnerinnen und Einwohner und 1880 etwa 62 000 Personen angemeldet waren?
Auch die deutschsprachigen Hoftheater - finanziell durch den ökonomischen
Abstieg der Höfe dazu gezwungen und inspiriert von der Nationaltheater-Idee
- mussten um ihr Überleben kämpfen und weiteten ihr Publikum auf das
Bürgertum hin aus. Dabei kam ihnen dessen Eifer zugute, aristokratische
Kultur- und Repräsentationsformen zu imitieren. Auf diesen
Nachahmungseffekt konnten die Theater in der «demokratischen» Schweiz nicht
bauen. Auch auf die Beamtenschaft und auf das Militär, wichtige
Publikumssegmente vieler Theater des Auslands, konnte das Basler
Stadttheater nicht hoffen, da sie quantitativ nicht ins Gewicht fielen. Die
Bühne am Steinenberg stand überdies vor der Aufgabe, gegen die Vorbehalte
der pietistisch geprägten, «frommen» Basler Oberschicht ein Interesse für
das professionelle Theater zu wecken.
Der gewichtigste Konkurrent um die Publikumsgunst waren nicht die Konzerte,
wie die bisherige Kulturgeschichtsschreibung unisono verkündete, sondern
die Schaustellungen und Zirkusse, die jährlich zur Basler Herbstmesse
anreisten. «Die grosse Konkurrentin des Theaters, die Messe, ist feierlich
und mit Glockengeläute eingezogen», vermerkte die Basler Tageszeitung
«Schweizer Volksfreund» zu Beginn der Herbstmesse 1872: «Traurig, dass sich
die Direktion mit den Mächten, die hier ihr Wesen und Unwesen treiben, auf
den Kriegsfuss zu stellen genöthigt sieht und ÐSein oder Nichtseinð mit
ihnen zu spielen hat.» Wie diese Konkurrenzbeziehung (kultur)politisch zu
behandeln sei, darüber gingen die Meinungen auseinander.
Das erfolgreichste Zirkusgastspiel im Basel des 19. Jahrhunderts konnte im
Jahr 1885 der Cirkus Wulff für sich verbuchen. Mit dem Beginn der
Herbstmesse gab er drei Wochen lang Vorstellungen in einem grossen
Holzrundbau von 40 Metern Durchmesser, den einheimische Handwerker auf dem
Barfüsserplatz errichtet hatten. «S'ist aber auch ein Bau!» staunte die
lokale Presse, «er beherrscht die ganze Gegend und an ihn lehnen sich wie
Schlinggewächse Dutzend kleinere Buden, ohne dass es dem Koloss Eintrag
thut.» Mit 100 Angestellten und 150 Pferden war der Zirkus angereist. Die
weithin gerühmten Pferdedressuren begeisterten alle.

ZIRKUSBEGEISTERUNG

Dem Basler Stadttheater machte das Zirkusgastspiel arg zu schaffen. Der
«Schweizer Volksfreund» meldete, dass der Zirkus in den zwei
Sonntagsvorstellungen 7000 Franken eingenommen habe (was bei einem hoch
angesetzten Durchschnittspreis pro Eintritt von Fr. 1.50 eine Zuschauerzahl
von 4667 ergibt). Als Vergleichswert notierte die Zeitung das
Einspielergebnis des Stadttheaters mit der Operette «Mamsell Angôt»
(Dohn/Lecocq) von 223 Franken (was bei einem angenommenen durchschnittlichen
Billettpreis von Fr. 1.80 ein 124 Personen umfassendes Publikum bedeutet).
Ermutigt von seinem Erfolg beantragte Zirkusdirektor Wulff bei der Polizei,
seine Spielgenehmigung zu verlängern. Das Theater ging daraufhin in die
politische Offensive und suchte beim Basler Regierungsrat um Ablehnung des
Verlängerungsgesuches nach, «unter dem Hinweis auf die Schädigung, welche
dem Theater aus der Konkurrenz des Zirkus erwachse». Das Basler Publikum
hingegen unterstützte den Zirkus mit begeisterten Leserbriefen in den
Zeitungen. Auch die Presse nahm in redaktionellen Beiträgen zugunsten des
Zirkus Stellung: «Die gegenwärtigen bedenklichen Bühnenleistungen machen es
im Interesse vieler Freunde eines gediegenen edlen Vergnügens nicht nur
wünschens-, sondern auch begehrenswerth, dass dem Gesuche des Herrn Wulff
entsprochen werden möchte. Wir sind überzeugt, dass die Mehrzahl der
Einwohnerschaft unserer Stadt und Umgebung für eine verlängerte Benützung
eines Vergnügungsetablissements wie dasjenige des Herrn Wulff unter den
leider existierenden traurigen Theaterverhältnissen einem hohen
Regierungsrathe dankbar sein wird.» Der Regierungsrat entschied jedoch
zuungunsten des Zirkus. Das Verlängerungsgesuch wurde abgelehnt.
Die letzten Tage seines Basler Gastspiels krönte Wulff mit der Dressur eines
Tramgauls. Er mietete sich vom ansässigen Betreiber des Pferdetrams einen
Fuchs und einen Rappen. Innert weniger Tage brachte er eines der beiden
Pferde dazu, im Zirkus zur Musik zu tanzen und über brennende Hindernisse zu
springen. Das Publikum brach in Begeisterungsstürme aus. Nicht zuletzt
diese spektakuläre Dressurleistung lockte weiteres Publikum an, aus
Basel-Landschaft und aus dem benachbarten Ausland. Zu den letzten beiden
Vorstellungen kamen nach Pressemeldungen nochmals an die 10 000 Zuschauer.

DER DRESSIERTE TRAMGAUL

Die ungewöhnliche Dressur eines Arbeitspferdes - statt eines der üblichen
Rassepferde - diente Wulff ohne Zweifel zur Unterstützung seines Renommees.
Dass Wulff einen Tramgaul mietete und weder einen Ackergaul noch ein
stadtgewohntes Zugpferd dressierte, hatte seine besondere Bewandtnis. 1881
wurden in Basel Tramomnibusse eingeführt. Dieses erste öffentliche
Verkehrsmittel brachte etwas Grossstädtisches nach Basel. Es war ein Signal
des Fortschritts - ähnlich wie der sukzessive Anschluss an das
internationale Eisenbahnnetz (1844, 1854, 1856). Mit dem Tramgaul wählte
Wulff ein Pferd aus, das allgemein als Zeichen von Modernität galt.
Nach der Abreise des Cirkus Wulff trabte der Tramgaul wieder durch Basel,
wie die «Basler Nachrichten» berichteten, doch «die Erinnerung an das
Lampenfieber wird ihm wohl noch ab und zu im Kopfe wirbeln, hat ihn doch
jeweilen eine sichtliche Aufregung geschüttelt, wenn die Menge Beifall
klatschte». Der Alltagstrott fasste wieder Fuss, die öffentliche Diskussion
um das Stadttheater und den Zirkus jedoch riss nicht ab. Denn das
Stadttheater warb mit folgendem Text auf den Theaterzetteln und in den
Zeitungen für die anstehende Aufführung der Oper «Die Jüdin»
(Scribe/Halévy): «Kaiser Sigismund erscheint im Zuge des ersten Aktes zu
Pferde.» Auf diese Weise war in Basel für die häufig gespielte «Jüdin» noch
nie geworben worden. Weder in der Theaterreklame noch in den Theaterkritiken
wurden je eigens Kaiser Sigismund - eine stumme Rolle in dem Werk - oder gar
sein Erscheinen zu Pferde erwähnt. Es war allerdings nicht das erste Mal,
dass Pferde auf der Bühne am Steinenberg zu sehen waren: So war
beispielsweise auch schon Karl Moor in den «Räubern» als Reiter zu
bewundern gewesen, und Gessler war im «Wilhelm Tell» hoch zu Ross
erschienen. Auch wenn es der Bühnenpraxis des 19. Jahrhunderts durchaus
entsprach, Pferde in grossen Opern, Melodramen oder Historienspielen
einzusetzen - der dressierte Tramgaul im Zirkus Wulff hatte die Wahrnehmung
und Bewertung des Geschehens auf der Stadttheaterbühne verändert.
Ein «theaterfreundlicher Sportsmann» begrüsste in einem Leserbrief an die
«Schweizer Grenzpost» die Initiative des Theaterdirektors, «ein wirkliches
Pferd auf hiesige Bühne» zu bringen, als «erfreuliche Rücksichtnahme seitens
der Direktion auf den nachgerade von Circusreminiszenzen bestimmten
Geschmack unseres Publikums». Weiter schlug er vor, «für diese
Repräsentationsrolle den dressirten Tramgaul zu acquiriren», was ein volles
Haus garantiere und eine Geste der Versöhnung zwischen dem Stadttheater und
dem Zirkus sein könne. Der «Allgemeinen Schweizer Zeitung» hingegen rückten
Theater und Zirkus bedenklich nahe, sie wetterte gegen die «fettgedruckten
Messbudenreclamen auf dem Theaterzettel».
In einer Theaterkritik über die «Jüdin»-Aufführung hiess es: «Der Aufzug im
ersten Akt, mit Kaiser Sigismund zu Pferde, war sehr geschmackvoll
arrangirt und der brave Schimmel hielt sich so wacker, als ob er ehemals
unter der Zucht des Zirkusdirektor Wulff gestanden hätte.» Und weiter: «Wie
man sich erzählt, soll das zugkräftige Tramwaypferd in der nächsten Zeit
auch auf der Bühne erscheinen und zwar in ÐUdineð.» Dass der für den Zirkus
dressierte Tramgaul auch als Kassenmagnet des Stadttheaters fungieren
sollte, das hatte wohl auch Wulff nicht geahnt. Der damalige Direktor des
Stadttheaters, Wilhelm Grundner, sah sich dazu gezwungen, in der «Basler
Handelszeitung» das Comeback des Trampferds auf seiner Bühne aufs heftigste
zu dementieren.
Das Basler Gastspiel des Zirkus löste eine in den Zeitungen ausgetragene
öffentliche Diskussion über das Verhältnis zwischen Zirkus und Theater aus.
Auf der einen Seite wurde das Stadttheater zu einem Ort der Poesie
stilisiert, den das Publikum mit der gehörigen Andacht und Ehrfurcht zu
betreten habe. Auf der anderen Seite hiess es beispielsweise in den «Basler
Nachrichten», der Zirkus sei «ein neutraler Boden für alle Stände und
Gesellschaftsklassen, alle Konfessionen und Sprachen»; hier wird «kein
religiöses Gemüth durch ein Couplet verletzt, kein Besitzender durch einen
sozialistischen Gedanken erschreckt und keine Milch der frommen
Denkungsart in gährend Drachengift verwandelt; das lassen die Clowns nicht
zu und der dumme August.»

HOHE UND NIEDRIGE KUNST

Aus der Not des mangelnden Publikumszuspruchs leitete das Basler
Stadttheater die Tugend der unterstützungsbedürftigen «hohen Kunst» ab.
Zwischen 1860 und 1890 versuchte das Theater immer wieder, sich von den
städtischen und kantonalen Regierungen gegen die publikumsattraktiven
Schaustellungen und Zirkusse durchsetzen zu lassen. Die eigenen Anleihen
aus dem verachteten Repertoire der unterhaltenden Künste übergehend, erhob
das Stadttheater für sich selbst den Anspruch auf «höhere» Kunst. Seine
Konkurrenz diskriminierte es hemmungslos als «niedrig»: «Der Circus
vertritt überhaupt eine Richtung von Vergnügen, die weniger die ethische
Seite als die halsbrecherische, das Effecterzielen, das Gruseln zum
Ausgangspunkt für das Publicum machen und die somit eher von der Polizei zu
beschränken als zu unterstützen wäre.» Das Stadttheater zielte letztlich
darauf ab, für sich ein Theatermonopol in Basel zu errichten. Es tat alles
dazu, die räumlichen, zeitlichen und finanziellen Rahmenbedingungen der
Schaubuden und Zirkusse zu erschweren und seine eigenen Bedingungen zu
verbessern. So mobilisierte das Stadttheater jahrzehntelang Institutionen,
Organisationen und Personen, um jegliche Konkurrenz aus dem Stadtbezirk zu
vertreiben. Es verlangte von den Behörden, Zirkusse nur ausserhalb der
Theatersaison zuzulassen, und schlug der Regierung vor, die
publikumsattraktiven Schaubuden mit einer Steuer von 5 bis 10 Prozent
zugunsten des Stadttheaters zu belegen. Es forderte also
«Theaterprivilegien», die in anderen Ländern im Namen der Handels- und
Gewerbefreiheit längst heftig bekämpft oder aufgehoben wurden. In Basel
scheiterte das Stadttheater mit den Versuchen, seine Konkurrenz verbieten
zu lassen - zunächst an der lang verbrieften Messefreiheit und später an
der 1875 eingeführten Gewerbefreiheit. Die politischen
Entscheidungsgremien kamen dem Stadttheater jedoch entgegen, indem sie ihm
in sehr bescheidenem Umfang Subventionen zusprachen und nur alle paar Jahre
einen Zirkus auf dem Barfüsserplatz gastieren liessen.

WANDEL DER BEWILLIGUNGSPRAXIS

Bis zum Beginn der 1890er Jahre hatten sich Polizei und Regierungsrat auf
die immer wieder bestätigte Regel berufen, «wonach zeitweise unter den
Messvergnügungen ein Circus an beliebter Lage, resp. auf dem Barfüsserplatz
gestattet wird». 1890 erlaubten sie - nicht zuletzt auf Druck des
grossbürgerlichen Pferdesportvereins - ein weiteres Gastspiel des Cirkus
Wulff. Es sollten die letzten Zirkusvorstellungen während der Theatersaison
auf dem Barfüsserplatz sein. Dies, obwohl nachweislich renommierte Zirkusse
in Basel gastieren wollten und obwohl ein offizieller regierungsrätlicher
Entscheid zugunsten eines Stadttheater-Monopols nicht vorlag. Dieser
veränderten Bewilligungspraxis lag ein Wandel des kulturpolitischen Klimas
zugrunde, der mit der Kleinbasler Vereinigungsfeier von 1892 und mit der
Umwandlung des Stadttheaters von einem Pacht- in einen Regiebetrieb
zusammenhing.
Das Jubiläum des 500. Jahrestags der rechtlichen und politischen
Vereinigung der beiden Städte Grossbasel und Kleinbasel im Jahr 1392 wurde
1892 in einem dreitägigen Staatsakt zelebriert, dessen Hauptereignis ein
überaus erfolgreiches Festspiel war. Bei diesem Vereinigungsspiel waren
weit über 1500 Laien beteiligt. Alle wichtigen bürgerlichen Vereine - von
den Sport- bis zu den Bildungsvereinen katholischer und protestantischer
Ausrichtung - waren in das Spektakel eingespannt, das von der Basler
Regierung mit initiiert und unterstützt wurde. Auch namhafte Vertreter der
Basler Oberschicht übernahmen tragende Rollen in dieser Aufführung. Die
Arbeiterschaft hingegen wurde von der aktiven Festspielteilnahme
ausgeschlossen und blieb auf die Zuschauerränge verbannt. Auch wenn die
gesellschaftliche Integrationskraft des Festspiels also nicht überbewertet
werden darf, leistete es einen bedeutenden Beitrag zur kulturellen
Identität innerhalb des Basler Bürgertums.
Wichtigste Integrationsfigur des Festspiels war der Regisseur Hugo Schwabe
(1847-1899). Er hatte es trotz seiner deutschen Herkunft geschafft, im
gesellschaftlichen und politischen Leben Basels eine herausragende Rolle
einzunehmen. Unter seiner Herausgeberschaft erfuhr der fortschrittliche
«Schweizer Volksfreund» einen grossen Aufschwung. 1886 wurde das Mitglied
und der Berater mehrerer Laientheater auch in den Vorstand der
Aktiengesellschaft des Stadttheaters berufen. Im November 1891, noch während
der Vorbereitungen zur Vereinigungsfeier, wurde beschlossen, das inzwischen
überaus umstrittene Pachtsystem abzuschaffen und das Stadttheater fortan
unter eigener Regie zu führen. Schwabe wurde zum neuen Direktor des
Stadttheaters gewählt. In seinen Händen liefen nun alle für das
Stadttheater wichtigen Fäden zusammen, die zur Regierung, die zur Polizei,
die zur Presse und die zu den bürgerlichen Vereinen, deren informeller
Einfluss auf die Entscheidung über die Vorstösse des Stadttheaters gegen
konkurrierende Schaugeschäfte nicht zu unterschätzen ist. Schwabes
Fähigkeit, andere Menschen zu begeistern, sein Charisma, seine Autorität und
sein gesellschaftlicher Einfluss verhalfen zunächst dem Festspiel, sodann
dem Stadttheater zu mehr Erfolg. In einer «privaten Besprechung» mit dem
zuständigen Regierungsrat erreichte Schwabe beispielsweise, dass die
Eröffnung eines zweiten Theaters in Basel vereitelt wurde. Was die
offiziellen Eingaben des Stadttheaters zwischen 1860 und 1890 nicht
schafften, kam nun durch persönliche Kontakte und informelle Absprachen
zustande. Der Zirkus als gewichtigster Konkurrent des Stadttheaters in
Basel war aus dem Feld geschlagen. Doch unter den Schaustellungen kündigten
sich neue Nebenbuhler um die Publikumsgunst an: 1896 liess erstmals ein
Kinematograph die Bilder laufen, 1907 eröffnete das erste feste Kino in der
Stadt.

Der Autor hat zu diesem Thema eine umfassende Studie veröffentlicht:
Stadttheater contra Schaubuden. Zur Basler Theatergeschichte des
19. Jahrhunderts. Chronos-Verlag, Zürich 1998. Reihe Theatrum Helveticum.
271 S., Fr. 48.-.

Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung LITERATUR 11.07.1998 Nr. 158 69

Diese Buchreihe fördert die Publikation von Texten zur Grundlagenforschung in der Theaterwissenschaft. In Aufsatzbänden bleibt bei einer Vielfalt der Gegenstände auch eine methodische Variationsbreite gewahrt. Sie bereiten als Sondierungen das Terrain für Monografien vor, für historische Längsschnitte, in denen eine Theaterform über einen längeren Zeitraum untersucht, und für historische Querschnitte, in denen das Nebeneinander, die Wechselwirkungen verschiedener Theaterformen in einem relativ kurzen Zeitraum erforscht werden